Zu den Aufgaben der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ)
gehören die Erfassung, Dokumentation und Bewertung von unerwünschten
Arzneimittelwirkungen (UAW). Die AkdÄ möchte Sie regelmäßig über aktuelle
Themen aus der Arbeit ihres UAW-Ausschusses informieren und hofft, Ihnen damit
wertvolle Hinweise für den Praxisalltag geben zu können.
Suizidalität ist sehr häufig, aber nicht immer Begleiterscheinung einer Depression
oder einer anderen psychiatrischen Erkrankung; sie wird jedoch auch als unerwartete
Wirkung verschiedener Arzneimittel beobachtet. Die AkdÄ hat an dieser und anderer
Stelle hierauf aufmerksam gemacht (1, 2, 3). Die Therapie mit Antidepressiva gilt
auch dem Zielsyndrom "Suizidalität" in der akuten depressiven Phase. Deshalb mag
die Beobachtung bzw. der Verdacht zunächst paradox erscheinen, dass
Antidepressiva selbst und insbesondere die wegen ihrer geringeren Toxizität bei
Patienten mit Suizidrisiko bevorzugt eingesetzten modernen Substanzen vom Typ
der SSRI (selektive Serotonin-Rückaufnahmeinhibitoren) selbst Suizidalität, z.B.
Suizidgedanken oder Suizidversuche, auslösen können. Auf der Basis kasuistischer
Beobachtungen wurde ein diesbezüglicher Verdacht in Bezug auf SSRI erstmals in
den frühen neunziger Jahren geäußert (z.B. 4, 5). Andererseits wurde in mehreren
Publikationen anhand von statistischen Analysen gepoolter Daten aus kontrollierten
SSRI-Studien versucht, diesen Verdacht auszuräumen (z.B. 6, 7, 8). Dies konnte
freilich nach Meinung vieler Experten nicht zufriedenstellend gelingen, weil in
Depressionsstudien aus verschiedenen Gründen suizidale Patienten gar nicht
aufgenommen werden. Zudem konnten weder die letztgenannten noch andere
Studien überzeugende Hinweise bringen, dass insbesondere eine längerfristige
Medikation mit SSRI oder anderen Antidepressiva (außer Lithiumsalzen) das Risiko
suizidaler Handlungen bei Patienten mit Depressionen oder Angststörungen
reduziert (9, 17). Auf der anderen Seite ergab sich aus epidemiologischen Studien
eine überproportional häufigere Verordnung von SSRI im Vergleich zu NSMRI
(nichtselektive Monoamin-Rückaufnahmeinhibitoren; trizyklische Antidepressiva) bei Patienten mit Suizidversuchen (18). Somit blieb der Sachverhalt weiterhin kontrovers
(10, 16) und bekam durch die Diskussion sowie die jüngsten regulatorischen
Aktivitäten zu einem vermuteten suizidogenen Risiko von Paroxetin und anderen
SSRI bei Kindern und Jugendlichen eine neue Aktualität (11, 12, 13), die auch zu
ersten Änderungen von Packungsbeilagen und Fachinformationen, z.B. von
Paroxetin (14), in Deutschland geführt hat. Die "Panorama"-Sendung des BBC im
Oktober 2002 ("Secrets of Seroxat") hat außerdem eine wissenschaftliche Diskussion
induziert, ob möglicherweise durch die Umcodierung originaler Patientenaussagen zu
potentiellen UAW in die vorgegebene medizinische UAW-Terminologie wichtige
Informationen verlorengehen bzw. das tatsächliche UAW-Profil einer Substanz
verzerrt wird (15).
Der Ausschuss "Unerwünschte Arzneimittelwirkungen" der AkdÄ hat sich vor diesem
Hintergrund mit den im deutschen Spontanerfassungssystem (gemeinsame
Datenbank von BfArM und AkdÄ) vorliegenden Meldungen zu suizidalen Handlungen
unter SSRI beschäftigt und ist zu folgenden Erkenntnissen gelangt.
Seit 1990 wurden 111 suizidale Handlungen im Zusammenhang mit NSMRI sowie
337 im Zusammenhang mit SSRI inkl. Venlafaxin berichtet (Datenstand: 23.08.2004).
Unter den SSRI, die im Zusammenhang mit 1.588 insgesamt gemeldeten suizidalen
Handlungen ursächlich angeschuldigt wurden, befand sich an erster Stelle Fluoxetin
(7,2 Prozent der Meldungen), gefolgt von Paroxetin (2,9 Prozent), Citalopram (2,5
Prozent), Sertralin (2,1 Prozent) und Fluvoxamin (1,1 Prozent). Das den SSRI
nahestehende Venlafaxin wurde in 6,1 Prozent der Berichte genannt. Die
klassischen NSMRI Doxepin und Amitriptylin wurden mit 1,9 bzw. 1,8 Prozent der
Meldungen deutlich seltener mit suizidalen Handlungen in Zusammenhang gebracht.
Interessanterweise wurde der MAO-Hemmstoff Moclobemid mit 5,0 Prozent relativ
häufig angegeben.
Der Altersgipfel bei den Meldungen zu suizidalen Handlungen unter SSRI inkl.
Venlafaxin lag bei 30-49 Jahren; 4 Prozent der Meldungen betrafen die Altersgruppe
bis 19 Jahren. Unter allen UAW-Meldungen zu SSRI und Venlafaxin (N=4.168)
machten psychiatrische Störungen 56 Prozent aus. Darunter war "Suizid(versuch)"
mit 337 Nennungen der am häufigsten genannte Begriff in der Organklasse
"psychiatrische Störungen" gefolgt von "Nervosität" (276), "Agitiertheit" (251), "Verwirrung" (140) und "Angst" (130). In den Fachinformationen zu SSRI wird meist
sinngemäß darauf hingewiesen, dass sich in den ersten Tagen bzw. Wochen der
Behandlung mit SSRI das eventuell bestehende Suizidrisiko nicht verringert und
deshalb eine gute Überwachung der Patienten notwendig ist. Dies ist allgemeines
Lehrbuchwissen der Psychiatrie. Die entscheidende Frage ist aber, ob de novo
Suizidalität unter dem Einfluss eines SSRI entstehen kann. Einige der im Ausschuss
diskutierten Fälle weisen auf diese Möglichkeit hin.
So entwickelte eine 63-jährige Patientin mit einer "rezidivierenden endo-neurotischen
Depression", die bislang mit verschiedensten NSMRI behandelt worden war und
immer wieder auch über Suizidgedanken geklagt hatte, drei Wochen nach
Umstellung auf Fluoxetin sowohl Suizidgedanken als auch ein Gefühl "nach oben
fliegen zu können". Nach plötzlichem Sprung aus dem Fenster, der glücklicherweise
überlebt wurde, verschwanden Depression und Suizidalität. Die antidepressive
Therapie wurde anschließend mit Amitriptylin fortgeführt (AkdÄ-Nr. 123.245). Das
den Fall begutachtende Kommissionsmitglied berichtete aus eigener Erfahrung über
zwei Suizidversuche von Patienten unter ähnlichen Verhaltensweisen nach Gabe
von Fluoxetin.
Eine 64-jährige Patientin mit einer Altersdepression, die bislang Suizidgedanken
immer verneint hatte, suizidierte sich vier Wochen nach Einleitung einer Fluoxetin-
Therapie (AkdÄ-Nr. 116.479). Bei einer 37-jährigen Patientin mit Verdacht auf
schizoaffektive Psychose trat unter 100, später 200 mg/Tag Fluvoxamin ausgeprägte
Unruhe auf, die nach Meinung der Patientin nur durch einen Suizid zu beheben sei.
Die Symptomatik verschwand nach Absetzen des SSRI (AkdÄ-Nr. 118.864). Auch
bei einer 40-jährigen Patientin mit depressivem Syndrom bei neurotischer
Fehlentwicklung, die während zwei Monaten unter ansteigenden Dosen von
Fluoxetin zunehmend Suizidgedanken entwickelte, besserte sich diese Symptomatik
nach Dosisreduktion bzw. Absetzen der Medikation (AkdÄ-Nr. 113.038). Eine 49-
jährige Ärztin, die wegen einer Angstsymptomatik mit Paroxetin behandelt wurde und
bislang niemals Suizidgedanken gehabt hatte, erlebte nach einigen Tagen
"angenehmer Wachheit und Angstfreiheit" einen für sie selbst "absurden" Zustand:
starke innere Unruhe ("Gefühl wie nach Überdosierung von Aufputschmitteln bei
gleichzeitiger völliger Unfähigkeit, die Zeit totzuschlagen"), schwerste Depression
und zwanghafte Suizidgedanken, die schließlich so übermächtig wurden, dass sie den Notarzt aufsuchte. Nach Absetzen von Paroxetin war die gesamte Symptomatik
"wie weggeblasen" (AkdÄ-Nr. 138.365).
Diese und andere Meldungen deuten in die gleiche Richtung wie andernorts
berichtete Fälle und legen die Möglichkeit nahe, dass auch bei Erwachsenen in
speziell gelagerten Fällen und insbesondere in Kombination mit den
psychomotorisch-exzitatorischen Nebenwirkungen der SSRI (10, 16) bestehende
Suizidalität sich verschlimmern oder neu entstehen und damit eine vital bedrohliche
Situation herbeigeführt werden kann (9, 17). Freilich kann eine akute Suizidalität
auch ohne solche Prodromi, die gelegentlich dem Bild einer Akathisie entsprechen
können, auftreten. Eine ähnliche Symptomatik ist prinzipiell auch durch NSMRI
induzierbar, aber die SSRI unterscheiden sich von Letzteren durch die
vergleichsweise höhere Rate von psychomotorischer Unruhe; auch scheint das denovo-
Entstehen als ich-fremd erlebter dranghafter suizidaler Impulse eine
Besonderheit dieser Wirkstoffgruppe zu sein. Über diese Möglichkeit muss
insbesondere auch die hausärztlich tätige Ärzteschaft informiert sein.
Eine Präzisierung, Differenzierung und Vereinheitlichung der Angaben in den Fachund
Gebrauchsinformationen zu SSRI und ähnlichen Substanzen erscheint
angebracht. Eine Einschränkung der zugelassenen Indikationen für SSRI ergibt sich
daraus aus Sicht der AkdÄ bislang nicht, wohl aber wird die Notwendigkeit, Patienten
während des Beginns einer antidepressiven Therapie und bei Dosissteigerungen
sorgfältig zu überwachen, durch die beschriebenen Fälle unterstrichen. Unabhängige
Langzeitstudien müssen das reale Nutzen/Risiko-Verhältnis von Antidepressiva und
die Sinnhaftigkeit ihrer stetigen Verordnungszunahme in Zukunft klären (9).
Bitte teilen Sie der AkdÄ alle beobachteten Nebenwirkungen (auch Verdachtsfälle)
mit. Sie können dafür den in regelmäßigen Abständen im Deutschen Ärzteblatt auf
der vorletzten Umschlagseite abgedruckten Berichtsbogen verwenden oder diesen
aus der AkdÄ-Internetpräsenz www.akdae.de abrufen.
Literatur
1. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Suizide und Suizidversuche
unter Bupropion (Zyban®). Dtsch Ärztebl 2004; 101: C-1719.
2. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Suizidalität im
Zusammenhang mit der Anwendung von Gyrasehemmern (Fluorchinolonen).
Dtsch Ärztebl 1995; 92: A-1197.
3. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Suizidalität unter der
Behandlung mit 5-Fluorchinolon-Antibiotika. Dtsch Ärztebl 2004; 101: A-1618-
1619.
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