Agranulozytose nach Metamizol - sehr selten, aber häufiger als gedacht (Aus der UAW-Datenbank)
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 108, Heft 33, 19.08.2011
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 108, Heft 33, 19.08.2011
Der AkdÄ wurde der Fall einer 41-jährigen Frau berichtet (AkdÄ Fall-Nr. 153111), die über etwa zehn Wochen wegen Wirbelsäulenbeschwerden dreimal täglich 30 Tropfen Metamizol sowie gelegentlich Ibuprofen eingenommen hatte. Über relevante Vorerkrankungen oder die Einnahme weiterer Medikamente wurde nicht berichtet. Die Frau entwickelte dann Schluckbeschwerden, Heiserkeit und Fieber. Drei Tage später zeigten sich im Labor eine Agranulozytose (Leukozyten 60/µl) sowie deutlich erhöhte Entzündungswerte (CRP 358 mg/l) und Zeichen der Verbrauchskoagulopathie und Organdysfunktion als Hinweis auf eine beginnende Sepsis (Quick 61 %, Serumkreatinin 2,1 mg/dl, Bilirubin 1,48 mg/dl). Die Patientin wurde stationär aufgenommen und musste wegen zunehmender Probleme bei der Atmung infolge einer schweren Epiglottitis intensivmedizinisch betreut werden. Es erfolgte die Behandlung mit G-CSF, Breitspektrum-Antibiotika (Piperacillin/Combactam plus Moxifloxacin vier Tage später wegen persistierenden Fiebers) sowie im Verlauf zusätzlich mit einem systemisch wirksamen Antimykotikum (Voriconazol). Die Knochenmarkzytologie zeigte eine fast vollständige Aplasie der Granulozytopoese, passend zur klinischen Verdachtsdiagnose einer schweren allergischen Agranulozytose. Erst nach etwa acht Tagen stiegen die neutrophilen Granulozyten im Blut wieder an. Dabei entwickelten sich jedoch raumfordernde, parapharyngeale Abszesse, die eine Intubation erforderlich machten und mehrfach operativ saniert werden mussten. Der weitere klinische Verlauf war erschwert durch eine Beatmungspneumonie und eine akute Arrosionsblutung aus der A. thyroidea superior infolge des Abszesses, die operativ ligiert werden musste. Die Patientin konnte nach einem Krankenhausaufenthalt von fünf Wochen in die ambulante Betreuung entlassen werden.
Agranulozytosen sind sehr selten und werden überwiegend durch Arzneimittel ausgelöst (1). Im vorliegenden Fall kommt neben Metamizol auch Ibuprofen als ursächlich für die Agranulozytose infrage. Während jedoch für das breit eingesetzte Ibuprofen seit 1990 nur Einzelfälle von Agranulozytosen gemeldet wurden, macht die Zunahme der Meldungen von Agranulozytosen im Zusammenhang mit Metamizol in den letzten Jahren aus Sicht der AkdÄ eine Erinnerung an diese seit langem bekannte unerwünschte Arzneimittelwirkung erforderlich.
Metamizol wurde in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in vielen Ländern aufgrund des Risikos von Agranulozytosen vom Markt genommen (z. B. USA, Australien, Japan sowie in den meisten Ländern der Europäischen Union). In Deutschland wurden im Jahr 1987 alle Metamizol-haltigen Kombinationspräparate vom Markt genommen und die Monopräparate der Rezeptpflicht unterstellt. Darüber hinaus wurden die Indikationen eingeschränkt auf
Aufgrund der Gefahr von Schockreaktionen ist dabei die parenterale Anwendung von Metamizol ausdrücklich nur dann indiziert, wenn eine orale Applikation nicht infrage kommt (2).
Trotz dieser Indikationseinschränkungen verzehnfachte sich die Zahl der Metamizolverordnungen in Deutschland im ambulanten Bereich von circa zehn Millionen Tagesdosen im Jahr 1990 auf mehr als 110 Millionen im Jahr 2009 (3). Auch im stationären Bereich wird Metamizol häufig eingesetzt, wobei hierzu jedoch keine Verordnungszahlen vorliegen. Parallel zur Zunahme der Verordnungen ist in diesem Zeitraum eine Zunahme der Spontanmeldungen von Agranulozytosen durch Metamizol zu verzeichnen. Während 1990 noch weniger als zehn Fälle berichtet wurden, lag die Zahl der Meldungen in den letzten Jahren im Durchschnitt bei über 30 pro Jahr. Insgesamt sind zwischen 1990 und 2010 etwa 300 Fälle von Agranulozytosen im Zusammenhang mit Metamizol gemeldet worden, mit einem tödlichen Ausgang in etwa 20 Prozent der Fälle. Der große Anteil von letalen Verläufen ist wahrscheinlich auf einen sogenannten Reporting Bias zurückzuführen, da schwer beziehungsweise tödlich verlaufende Fälle eher als unkomplizierte Verläufe gemeldet werden.
Die gute analgetische und antipyretische Wirksamkeit ist vermutlich für die erhebliche Zunahme der Verordnungen von Metamizol verantwortlich. Die in den Spontanmeldungen aufgeführten Indikationen weisen darauf hin, dass Metamizol häufig auch bei leichten bzw. mittelstarken Schmerzen sowie trotz wirksamer Alternativen als Erstlinientherapie bei Beschwerden, wie z. B. Rückenschmerzen, eingesetzt wird. Bei diesen Indikationen, die durch die Zulassung nicht abgedeckt sind (off-label use), ist das Nutzen-Risiko-Profil von Metamizol ungünstig und die Aufklärungspflichten des Arztes unterliegen den strengen Sorgfaltsanforderungen des Arzthaftungsrechts.
Wie hoch das Risiko von Agranulozytosen durch Metamizol ist, lässt sich aufgrund der Seltenheit der Ereignisse schwer bestimmen. Die oft genannte Häufigkeit von 1 zu 1,1 Millionen pro Woche Anwendung geht auf eine Studie aus dem Jahr 1986 zurück (International Agranulocytosis and Aplastic Anemia Study, IAAAS [4]), die hinsichtlich Methodik und Auswertung der Studienergebnisse kritisiert wurde (5-7). Studien aus den Niederlanden und Spanien bestätigten die in der IAAAS beobachtete Größenordnung des Risikos (8, 9). Hingegen berechnete eine schwedische Studie aus dem Jahr 2002 ein Risiko von 1 auf 1439 Verschreibungen (10). Diese Berechnung erscheint jedoch deutlich zu hoch und unsicher, weil sie auf einer absoluten Zahl von nur acht Fällen beruht.
Da es sich unabhängig von der exakten Häufigkeit um eine sehr seltene unerwünschte Arzneimittelwirkung handelt (< 1 zu 10.000), sieht die überwiegende Mehrzahl der Ärztinnen und Ärzte auch bei langjähriger Verschreibung von Metamizol keinen Fall einer Agranulozytose. Dies trägt möglicherweise zur Unterschätzung des Risikos und zur Verordnung außerhalb der zugelassenen Indikationen bei.
Aus Sicht der AkdÄ sollte Metamizol strikt nur innerhalb der o. a. zugelassenen Indikationen verordnet werden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat 2009 darauf hingewiesen, dass es bei leichten oder mittelstarken Schmerzen nicht angewendet werden darf. Fieber ist nur dann eine Indikation für Metamizol, wenn andere Antipyretika nicht ausreichend wirksam waren (11). Störungen der Knochenmarkfunktion (z. B. nach Zytostatikabehandlung) oder Erkrankungen des hämatopoetischen Systems sind laut Fachinformation eine Kontraindikation für den Einsatz von Metamizol (2). Daher sollte bei dieser Gruppe von Patienten vor der Gabe von Metamizol sorgfältig geprüft werden, ob auch andere Analgetika beziehungsweise Antipyretika in Betracht kommen. Agranulozytosen sind in den meisten Fällen immunologisch vermittelte Reaktionen. Sie treten in der Regel etwa sieben Tage bis einige Wochen nach Einnahmebeginn auf (1), nach vorangegangener Exposition mit dem ursächlichen Arzneimittel kann sich eine Agranulozytose jedoch auch sehr rasch entwickeln. Bei längerer Anwendung von Metamizol sollten regelmäßige Blutbildkontrollen durchgeführt werden (2). Die Art der Applikation (intravenös oder oral) beeinflusst das Risiko vermutlich nicht. Patienten müssen über das Risiko und mögliche Warnsignale wie Fieber, Halsschmerzen und Entzündungen im Bereich der Mundschleimhäute (Stomatitis) aufgeklärt werden. Dabei sollte auch beachtet werden, dass Patienten nach einmaliger Verordnung Metamizol auch zu einem späteren Zeitpunkt aufgrund anderer Beschwerden ohne nochmalige Rücksprache mit einem Arzt einnehmen oder an andere Familienmitglieder weitergeben.
Bitte teilen Sie der AkdÄ alle beobachteten Nebenwirkungen (auch Verdachtsfälle) mit. Sie können dafür den Berichtsbogen verwenden, der regelmäßig im Deutschen Ärzteblatt abgedruckt wird oder über die Homepage der AkdÄ abrufbar ist. Es besteht auch die Möglichkeit, über www.akdae.de direkt online einen UAW-Verdachtsfall zu melden.