Atypische diabetische Ketoazidosen im Zusammenhang mit SGLT-2-Hemmern (Gliflozine) („Aus der UAW-Datenbank“)
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 115, Heft 38, 21.09.2018
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 115, Heft 38, 21.09.2018
SGLT-2-Hemmer (Gliflozine) können in seltenen Fällen zum Auslösen einer atypischen diabetischen Ketoazidose beitragen. Als Mechanismen werden Änderungen des Gleichgewichts von Insulin und Glukagon durch den Verlust von Glukose über den Urin sowie weitere Effekte der Gliflozine an der Bauchspeicheldrüse und auf die renale Ausscheidung von Ketonkörpern diskutiert. Das Risiko für eine Ketoazidose ist erhöht in Situationen mit vermehrtem Insulinbedarf, wie z. B. bei größeren operativen Eingriffen, niederkalorischen Diäten oder akuten schweren Erkrankungen. Daher wird in diesen Situationen die vorübergehende Pausierung von Gliflozinen empfohlen. Die Diagnose von Gliflozin-assoziierten Ketoazidosen wird dadurch erschwert, dass der Blutzucker nur mäßig erhöht oder sogar normal sein kann.
Gliflozine verbessern die Blutzuckerkontrolle bei Patienten mit Typ-2-Diabetes, indem sie die renale Glukoserückresorption vermindern. Sie hemmen den Natrium-Glukose-Transporter 2 (SGLT-2), über den im proximalen Tubulus etwa 90 % der glomerulär filtrierten Glukose rückresorbiert wird (1). Bei kompletter Hemmung von SGLT-2 können 50 bis 100 g Glukose pro Tag über den Harn verloren gehen, was etwa 30 % der täglichen Kohlenhydrataufnahme entspricht (2). Durch die Hemmung von SGLT-2 wird darüber hinaus die Natriumausscheidung erhöht, was beides zu einer osmotischen Diurese und reduziertem intravaskulärem Volumen führt (3;4). Die Glukoseausscheidung durch Gliflozine nimmt bei niedrigen Blutzuckerspiegeln ab (5). Ihr Hypoglykämierisiko wird als gering eingeschätzt und hängt im Wesentlichen von der antidiabetischen Begleitmedikation ab.
In Deutschland sind derzeit drei Gliflozine auf dem Markt (Dapagliflozin, Empagliflozin, Ertugliflozin), die als Monopräparate oder in Kombination mit anderen oralen Antidiabetika verfügbar sind. Sie sind zugelassen zur Behandlung des Typ-2-Diabetes als Ergänzung zu Diät und Bewegung.
Die Verordnungen von Gliflozinen haben erheblich zugenommen: Bereits 2016 war eine Steigerung der verordneten Tagesdosen von 67 % gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen (6). 2017 sind die Verordnungen als Monopräparate bzw. in Kombination mit Metformin auf insgesamt knapp 104 Mio. definierte Tagesdosen gestiegen – dies entspricht einem Plus von etwa 48,5 % (persönliche Mitteilung, GKV-Arzneimittelindex im Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO)).
Zu den Nebenwirkungen von Gliflozinen zählen Infektionen der Harnwege, genitale Infektionen wie Vaginitis und Balanitis, Volumenmangel, verstärkte Harnausscheidung und Dysurie (3;4;6). Von Bedeutung für den klinischen Alltag – obwohl selten – ist die Assoziation von Gliflozinen mit dem Auftreten von diabetischen Ketoazidosen, wenn bestimmte weitere Risikofaktoren vorliegen. Verschiedene Mechanismen hierfür werden diskutiert: Gliflozine induzieren den Verlust von Glukose über die Niere. Mit dem hierdurch verminderten Blutglukosespiegel fehlt ein wichtiger Trigger für die Ausschüttung von Insulin (2). Gegenregulatorisch wird mehr Glukagon sezerniert, was zu einer vermehrten Lipolyse und Fettsäureoxidation mit Bildung von Ketonkörpern in der Leber führen kann. Zusätzlich exprimieren Alpha-Zellen in den Langerhans’schen Inseln der Bauchspeicheldrüse SGLT-2-Rezeptoren, die als Glukosesensoren dienen. Diese werden ebenfalls durch Gliflozine blockiert und imitieren eine Hypoglykämie, was die Ausschüttung von Glukagon verstärken kann (7). Darüber hinaus bewirken Gliflozine die vermehrte Rückresorption von Ketonkörpern in der Niere (8). Patienten können daher unter Gliflozinen eine Ketoazidose haben, ohne dass Ketonkörper im Urin nachweisbar sind (5). In mehreren Untersuchungen wurden bei 12 bis 20 % der Typ-2-Diabetiker unter Gliflozinbehandlung asymptomatische Erhöhungen des Ketonkörpers Beta-Hydroxybutyrat festgestellt (9).
Zu den diagnostischen Kriterien für eine diabetische Ketoazidose zählen neben dem Nachweis von Ketonkörpern ein pH ≤ 7,3, ein Serumbicarbonat ≤ 15 mmol/l und ein Anionengap > 12 mmol/l (10). Eine Besonderheit der Gliflozin-assoziierten Ketoazidosen ist, dass der Blutzucker durch die vermehrte Glukoseausscheidung über die Niere auch nur mäßig erhöht oder sogar normal sein kann.
Situationen mit einem vermehrten Insulinbedarf oder relativem Insulinmangel können mit einem erhöhten Risiko für eine Gliflozin-assoziierte Ketoazidose einhergehen. Risikofaktoren sind u. a. chirurgische Eingriffe, Infektionen oder das Aussetzen bzw. die Dosisreduktion von Insulin (5).
Gliflozin-assoziierte Ketoazidosen sind selten. Metaanalysen der kontrollierten klinischen Studien geben Häufigkeiten von 0,1 % an, ohne dass unter SGLT-2-Hemmern ein erhöhtes Risiko gegenüber den Vergleichsgruppen bestand (11;12). Demgegenüber war in einer Auswertung von US-amerikanischen Routinedaten das Risiko gegenüber DPP4-Inhibitoren etwa verdoppelt, mit einer Rate von 5 pro 1000 Patienten pro Jahr (13). Der AkdÄ sind im Rahmen des Spontanmeldesystems bislang etwa 50 Verdachtsfälle von diabetischen Ketoazidosen im Zusammenhang Gliflozinen berichtet worden.
Zu Gliflozin-assoziierten diabetischen Ketoazidosen wurden im Juli 2015 und März 2016 zwei Informationsbriefe durch die pharmazeutischen Unternehmer versendet und die Fachinformationen angepasst (14;15). Bei folgenden Symptomen unter Behandlung mit Gliflozinen sollte eine Ketoazidose in Betracht gezogen werden: Übelkeit, Erbrechen, Anorexie, Bauchschmerzen, starker Durst, Schwierigkeiten beim Atmen, Verwirrtheit, ungewöhnliche Müdigkeit oder Schläfrigkeit. Dies gilt auch, wenn der Blutzucker nicht oder nur mäßig erhöht ist. Ärzte sollten ihre Patienten aufklären, sich bei einer solchen Symptomatik unverzüglich ärztlich vorzustellen. Bei Verdacht auf eine diabetische Ketoazidose oder wenn eine diabetische Ketoazidose diagnostiziert wurde, muss die Behandlung mit Gliflozinen sofort abgesetzt werden. In solchen Fällen sollten Gliflozine nur dann erneut angesetzt werden, wenn ein anderer eindeutiger auslösender Faktor für die Ketoazidose festgestellt und beseitigt wurde. Bei Patienten, die wegen eines größeren chirurgischen Eingriffs oder einer akuten schweren Krankheit stationär aufgenommen werden, soll die Behandlung mit Gliflozinen unterbrochen werden (weitere Empfehlungen siehe Tabelle). Aufgrund der Halbwertszeit von 11 bis 13 Stunden wird von einigen Autoren empfohlen, Gliflozine drei Tage vor großen chirurgischen Eingriffen abzusetzen (5;9). Der AkdÄ wurden mehrere Fälle mitgeteilt, in denen Gliflozine trotz operativer Eingriffe weiter eingenommen wurden und postoperativ Ketoazidosen auftraten. Die Behandlung kann nach einem Eingriff wieder aufgenommen werden, wenn der Patient klinisch stabil und normhydriert ist und eine normale Ernährung toleriert. Bitte teilen Sie der AkdÄ Nebenwirkungen (auch Verdachtsfälle) mit. Sie können online über unsere Website melden (www.akdae.de) oder unseren Berichtsbogen verwenden, der regelmäßig im Deutschen Ärzteblatt abgedruckt wird.
Literatur