Guillain-Barré-Syndrom im Zusammenhang mit COVID-19 Vaccine AstraZeneca (Vaxzevria®) („Aus der UAW-Datenbank“)
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 118, Heft 38, 24.09.2021
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 118, Heft 38, 24.09.2021
Der Impfstoff von AstraZeneca zur Vorbeugung von COVID-19 (Vaxzevria®) wurde Ende Januar 2021 von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) zugelassen (1). Es handelt sich um einen adenoviralen Vektorimpfstoff. Nach der Injektion wird lokal das Spike(S)-Glykoprotein des SARS-CoV-2 exprimiert, wodurch die Bildung neutralisierender Antikörper und die zelluläre Immunantwort stimuliert werden (1).
In einer Interimsanalyse von Daten aus zwei randomisierten, kontrollierten Studien wurden 30 symptomatische COVID-19-Erkrankungen bei insgesamt 5807 Teilnehmern identifiziert, die mit dem COVID-19-Impfstoff von AstraZeneca geimpft wurden (0,5 %). Demgegenüber wurden 131 symptomatische Erkrankungen bei insgesamt 5829 Teilnehmern in der Kontrollgruppe beobachtet (1,7 %), was einer relativen Wirksamkeit von 70 % entspricht (2). Die bedingte Zulassung von Vaxzevria® wurde an Auflagen geknüpft (1).
Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt aktuell für alle Personen, die eine erste Impfung mit Vaxzevria® erhalten haben, die Zweitimpfung mit einem mRNA-Impfstoff nach einem mindestens vierwöchigen Intervall durchzuführen. Hintergrund ist eine gemäß den aktuellen Studienergebnissen verbesserte Immunantwort dieses sogenannten heterologen Impfschemas gegenüber einem homologen Impfschema mit zwei Dosen Vaxzevria® (3).
Der AkdÄ wurde der Fall eines 35-jährigen Patienten gemeldet, der zwei Wochen nach Erstimpfung gegen COVID-19 mit Vaxzevria® zunächst ein Taubheitsgefühl an den Füßen sowie Kribbelparästhesien an den Fingern entwickelt hat. Im Verlauf kamen innerhalb von neun Tagen eine schlaffe, leicht rechtsbetonte Tetraparese mit abgeschwächten bzw. ausgefallenen Muskeleigenreflexen sowie eine periphere Fazialisparese rechts hinzu, die zur stationären Aufnahme führte.
Ein zerebrales und spinales MRT waren unauffällig. Im Liquor bestand eine zytoalbuminäre Dissoziation (Eiweiß-Erhöhung von 98 mg/dl bei normaler Zellzahl). In der sensiblen und motorischen Neurographie zeigte sich ein demyelinisierendes Schädigungsmuster mit ausgefallenen F-Wellen. Dies spricht für eine schwerpunktmäßige Schädigung der Myelinschicht des peripheren Nerven. Es wurde die Diagnose eines Guillain-Barré-Syndroms (GBS) gestellt. Da keine anderen Ursachen für ein GBS identifiziert werden konnten (z. B. Gangliosid-Antikörper, Anti-MAG-Antikörper, Immunelektrophorese, Campylobacter- und Mykoplasmen-Serologie), wurde ein Kausalzusammenhang mit der Impfung gegen COVID-19 vermutet.
Unter der Behandlung mit intravenösen Immunglobulinen (3 x 10 g/d über fünf Tage) besserte sich der Zustand des Patienten zunächst und er konnte entlassen werden. Einige Tage später erfolgte die Wiederaufnahme, da sich die Fazialisparese verschlechtert hatte. Nach erneut durchgeführter Diagnostik wurde die Diagnose eines Rezidivs des GBS gestellt und der Patient erneut mit intravenösen Immunglobulinen (3 x 10 g/d über drei Tage) behandelt. Der Patient wurde schließlich in eine stationäre neurologische Rehabilitation entlassen.
Das GBS ist eine akute, potenziell lebensbedrohliche Autoimmunerkrankung des peripheren Nervensystems, die sich typischerweise mit rasch aufsteigenden, schlaffen Lähmungen sowie teilweise auch sensorischen und autonomen Störungen manifestiert. Typisch ist die sogenannte zytoalbuminäre Dissoziation im Liquor mit erhöhtem Eiweiß bei normaler Zellzahl. Bis zu 30 % der Patienten entwickeln eine respiratorische Insuffizienz und müssen beatmet werden. Patienten müssen sorgfältig überwacht und ggf. mit intravenösen Immunglobulinen oder Plasmaaustausch behandelt werden. Die Symptome erreichen in der Regel innerhalb von vier Wochen ihren Höhepunkt. Die Erholungsphase kann Monate bis Jahre dauern (4–6). Die Inzidenz von GBS wird für Nordamerika und Europa auf 0,8 bis 1,9 pro 100.000 Einwohner pro Jahr geschätzt (7). Das GBS ist keine einheitliche Erkrankung, sondern umfasst verschiedene Unterformen wie akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (AIDP), akute motorische axonale Neuropathie (AMAN) und Miller-Fisher-Syndrom (4;5). GBS tritt häufig innerhalb von vier Wochen nach bakteriellen oder viralen Infektionen auf. Verschiedene Pathogene wie Campylobacter jejuni, Mycoplasma pneumoniae, Cytomegalie-Virus, Epstein-Barr-Virus, Hepatitis-A-Virus und Influenza-A-Virus werden als Auslöser genannt (4;5). Der Pathomechanismus ist nicht vollständig geklärt. Man nimmt an, dass Autoantikörper und Entzündungszellen mit Epitopen auf peripheren Nerven und Nervenwurzeln kreuzreagieren und zu Demyelinisierung und/oder axonaler Schädigung führen (4–6).
GBS wurde wiederholt im Zusammenhang mit COVID-19 beschrieben (4;6;8–11). Dabei sind typische postinfektiöse Erkrankungen zu unterscheiden von parainfektiösen, die annähernd zeitgleich mit COVID-19 auftreten (11). In einem systematischen Review mit Metaanalyse wurde die Prävalenz von GBS mit 15 pro 100.000 COVID-19-Patienten höher geschätzt als in der Allgemeinbevölkerung zu erwarten (2/100.000) (12). Demgegenüber fand eine große epidemiologische Studie eine niedrigere GBS-Inzidenz während der COVID-19-Pandemie im Vergleich zu den entsprechenden Monaten der Vorjahre. Die Autoren räumen ein, dass dies auch mit Effekten des Lockdowns mit konsekutiv verminderter Übertragung anderer Pathogene wie Campylobacter jejuni oder respiratorischen Viren zusammenhängen könnte (13).
Auch nach Impfung mit dem COVID-19-Impfstoff von AstraZeneca (14–16) und anderen Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 (17–20) werden in der Literatur Fälle von GBS beschrieben. Dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) wurden bis zum 31.07.2021 insgesamt 84 Fallberichte eines GBS bzw. Miller-Fisher-Syndroms im Zusammenhang mit Vaxzevria® gemeldet. In sieben Fällen gab es Hinweise auf andere (z. B. infektiöse) Auslöser. Betroffen waren jeweils 42 Männer und Frauen im Alter von 21 bis 93 Jahren (bei zwei Patienten wurde kein Alter angegeben). Die ersten Symptome traten im Mittel 17 Tage nach der Impfung auf. Demgegenüber wurden nur 59 Fälle von GBS/Miller-Fisher-Syndrom im Zusammenhang mit Comirnaty®, sieben im Zusammenhang mit Spikevax® und 18 nach Impfung mit COVID-19 Vaccine Janssen berichtet. In den regelmäßig durchgeführten „Observed-to-exspected“-Analysen des Paul-Ehrlich-Instituts wird untersucht, ob Ereignisse häufiger im Zusammenhang mit einer Impfung gegen SARS-CoV-2 berichtet werden als dies in der Allgemeinbevölkerung zu erwarten wäre. Mit einer „Standard Morbidity Ratio“ (SMR) von 3,91 (95 % Konfidenzintervall 3,05 – 4,93) ergibt sich ein statistisches Signal für Vaxzevria®. Auch für COVID-19 Vaccine Janssen ergibt sich mit einer SMR von 4,27 (95 % Konfidenzintervall 2,39 – 7,04) ein Signal, nicht jedoch für die mRNA-Impfstoffe (21). Auf Empfehlung des Ausschusses für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz (PRAC) der EMA wurde GBS als sehr seltene Nebenwirkung in die Fachinformationen von Vaxzevria® und COVID-19 Vaccine Janssen aufgenommen (1;22–24).
Der beschriebene Fallbericht sowie weitere Berichte in der Literatur und im Spontanmeldesystem deuten darauf hin, dass GBS eine mögliche Nebenwirkung von Vaxzevria® sein könnte. Allerdings sind angesichts der Vielzahl der Geimpften auch spontan bzw. durch andere Pathogene ausgelöste GBS zu erwarten. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei dem berichteten Fall um eine zufällige Koinzidenz handelt. Da die Inzidenz eines etwaigen Vaxzevria®-assoziierten GBS sehr niedrig eingeschätzt wird (14), überwiegt aus Sicht der AkdÄ nach wie vor der Nutzen der Impfung deren Risiken.
Wenn nach der Impfung insbesondere mit Vaxzevria® oder mit COVID-19 Vaccine Janssen neurologische Symptome auftreten, wie z. B. schlaffe Paresen oder distal symmetrische Sensibilitätsstörungen, sollte ein GBS erwogen und die Patienten entsprechend untersucht und behandelt werden. Bei der Meldung solcher Fälle an die AkdÄ sollten nach Möglichkeit weitere Informationen, insbesondere zu möglichen Differenzialdiagnosen, zur Verfügung gestellt werden. Hierzu zählen beispielsweise Campylobacter jejuni-Serologie, SARS-CoV-2-Test und Gangliosid-Antikörper.
Bitte teilen Sie der AkdÄ Nebenwirkungen (auch Verdachtsfälle) mit. Sie können online über unsere Website www.akdae.de melden oder unseren Berichtsbogen verwenden, der regelmäßig im Deutschen Ärzteblatt abgedruckt wird.