1. Thalidomid war bis 1961 unter der Produktbezeichnung Contergan® als Schlafmittel
im Verkehr. Gegenwärtig ist in Deutschland kein Fertigarzneimittel mit diesem Wirkstoff
zugelassen. Über die bei der European Medicines Evaluation Agency (EMEA) in London
beantragten Zulassungen für die Indikationen Multiples Myelom und Erythema nodosum leprosum ist noch nicht entschieden. Die Anwendung eines
Thalidomid-haltigen Arzneimittels erfolgt damit in persönlicher Verantwortung des
Arztes; § 84 des Arzneimittelgesetzes zur Gefährdungshaftung ist nicht anwendbar.
2. Thalidomid hat neben seiner sedierenden Wirkung auch bei verschiedenen anderen
Indikationen ein therapeutisches Potenzial. Es wirkt unter anderem immunmodulatorisch und wird deswegen in klinischen Prüfungen erprobt und in
individuellen Heilversuchen angewendet. Aufgrund der bekannten Risiken von
Thalidomid, insbesondere seiner teratogenen Wirkung, muss bei der Anwendung in jedem Fall die Einhaltung höchstmöglicher Sicherheitsvorkehrungen gewährleistet
sein. Ohne diese ist der Einsatz von Thalidomid-haltigen Arzneimitteln medizinisch nicht
vertretbar und das Inverkehrbringen arzneimittelrechtlich als bedenklich anzusehen.
3. Thalidomid-haltige Arzneimittel können in klinischen Prüfungen unter den Voraussetzungen der §§ 40 ff. des Arzneimittelgesetzes, einschließlich
höchstmöglicher Sicherheitsanforderungen im Prüfplan, angewendet werden.
4. Eine Anwendung von Thalidomid-haltigen Arzneimitteln im Rahmen eines
individuellen Heilversuches ist nur vertretbar, wenn
- eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung vorliegt,
- mit anderen Arzneimitteln kein ausreichender Heilerfolg erzielt werden kann,
- nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft ein Erfolg der Behandlung
- hinreichend wahrscheinlich ist und
- die unter der nachfolgenden Ziffer 5 genannten Sicherheitsanforderungen eingehalten
werden.
5. Bei der Anwendung Thalidomid-haltiger Arzneimittel im individuellen Heilversuch sind
mindestens folgende Sicherheitsanforderungen einzuhalten:
5.1 Verordnung durch eine Ärztin/einen Arzt mit Erfahrung in der Behandlung der
jeweiligen Krankheit, in der Regel in spezialisierten Einrichtungen oder Fachabteilungen,
5.2 grundsätzlich keine Anwendung bei Frauen im gebärfähigen Alter und bei Männern,
die sexuellen Verkehr mit Frauen im gebärfähigen Alter haben,
5.3 Aufklärung der Patientin/des Patienten über die mit der Behandlung von Thalidomid
verbundenen Risiken, insbesondere hinsichtlich des teratogenen Potenzials,
5.4 Aufklärung der Patientin/des Patienten darüber, dass Thalidomid-haltige
Arzneimittel keinesfalls an andere Personen ab- oder weitergegeben werden dürfen,
5.5 Aufklärung der Patientin/des Patienten darüber, dass während der Behandlung und
mindestens einen Monat nach Beendigung der Behandlung kein Blut gespendet werden darf,
5.6 Aufklärung von männlichen Patienten darüber, dass während der Behandlung und
mindestens einen Monat nach Beendigung der Behandlung kein Samen gespendet werden darf,
5.7 bei der ausnahmsweisen Anwendung bei Frauen im gebärfähigen Alter Aufklärung
darüber, dass zwei unterschiedlich wirkende kontrazeptive Methoden (hormonelle Kontrazeption und Barriere-Methode) anzuwenden sind, ferner
5.8 Durchführung eines Schwangerschaftstestes aus dem Blut vor Einleitung der
Behandlung mit Thalidomid,
5.9 monatliche Durchführung von Schwangerschaftstests aus dem Blut während der
gesamten Dauer der Behandlung zum wiederholten Ausschluss oder frühzeitigen Feststellen einer Schwangerschaft anlässlich jedes Arztbesuches für eine
Folgeverordnung,
5.10 sofortige Beendigung der Anwendung nach Feststellung einer Schwangerschaft
und Beratung durch Fachpersonal,
5.11 bei der ausnahmsweisen Anwendung bei Männern, die sexuellen Verkehr mit
Frauen im gebärfähigen Alter haben, Aufklärung darüber, dass Kondome zu benutzen
sind und bei der Frau zusätzlich eine kontrazeptive Methode anzuwenden ist,
5.12 Aushändigung von schriftlichem Informationsmaterial an die Patientin/den
Patienten über die Anwendung, die Risiken der Anwendung und die Notwendigkeit der
sicheren Kontrazeption, einschließlich geeigneter Methoden,
5.13 schriftliche Einwilligung der Patientin/des Patienten in die Behandlung und
schriftliche Bestätigung, dass die Aufklärung nach den Ziffern 5.3 bis 5.7 und 5.11
durchgeführt und verstanden worden ist,
5.14 Dokumentation von Aufklärung und Einwilligung der Patientin/des Patienten in der
Patientenakte,
5.15 Verschreibung des Arzneimittels in einer Menge, die dem Bedarf für eine
Behandlungsdauer von maximal 28 Tagen entspricht,
5.16 Vermerk des Arztes auf der Verschreibung, dass die vorstehenden
Sicherheitsanforderungen eingehalten werden.
6. Bei der Bereitstellung Thalidomid-haltiger Arzneimittel oder des Wirkstoffes sind die
geltenden arzneimittelrechtlichen und apothekenrechtlichen Vorschriften einzuhalten.
Das betrifft insbesondere § 73 Absatz 3 des Arzneimittelgesetzes sowie die §§ 11 und
18 der Apothekenbetriebsordnung.
7. Die Werbung für nicht zugelassene Arzneimittel ist nach § 3a des
Heilmittelwerbegesetzes, und somit auch für Thalidomid-haltige Arzneimittel, verboten.
8. Verdachtsfälle von unerwünschten Arzneimittelwirkungen, damit auch solche, die bei
der Anwendung von Thalidomid-haltigen Arzneimitteln auftreten, sind nach der Berufsordnung der Ärzte und Apotheker meldepflichtig.
9. Die zuständigen Behörden legen bei der Überwachung des Arzneimittelverkehrs
diese Bekanntmachung zugrunde.
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker
Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie
Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung
Vorsitzland der Arbeitsgruppe für Arzneimittel-, Apotheken-,
Transfusions- und Betäubungsmittelwesen der Arbeitsgemeinschaft der Obersten
Landesgesundheitsbehörden (Nordrhein-Westfalen)