Falsch-positives Neugeborenen-Screening auf Isovalerianazidämie nach Anwendung von Pivmecillinam in der Schwangerschaft („Aus der UAW-Datenbank“)

Deutsches Ärzteblatt, Jg. 116, Heft 9, 01.03.2019

Deutsches Ärzteblatt, Jg. 116, Heft 9, 01.03.2019

Das Antibiotikum Pivmecillinam ist ein Prodrug des Betalaktamantibiotikums Mecillinam. Es wirkt vor allem gegen gramnegative Bakterien bakterizid, indem es die Biosynthese der Bakterienzellwand stört (1;2). Je nach Präparat und Dosierung ist es bei Erwachsenen und Kindern ab sechs Jahren zugelassen zur Behandlung der akuten unkomplizierten Zystitis und anderer unkomplizierter Infektionen des unteren Harntrakts, die durch Mecillinam-empfindliche Bakterien hervorgerufen wurden (1;2). Es wird auch zur Behandlung der akuten unkomplizierten Zystitis in der Schwangerschaft angewendet (1–3).

Der AkdÄ wurde der Fall eines klinisch gesunden neugeborenen Jungen gemeldet, bei dem im Rahmen des Neugeborenen-Screenings eine erhöhte Konzentration von C5-Acylcarnitin aufgefallen war (C5: 3,5 µmol/l [Referenzwert < 0,51], C5/C8 Ratio: 71,6 [< 9,26]), weswegen er notfallmäßig aufgrund des Verdachts einer Isovalerianazidämie stationär aufgenommen wurde. Die Ernährung mit Muttermilch wurde unterbrochen und neben Glukoseinfusionen auf eine eiweißfreie Spezialnahrung umgestellt. Das freie Carnitin lag an der unteren Grenze des Normbereichs (14,7 µmol/l [7,01–55]), sodass eine Substitution mit Carnitin (3 × 100 mg/d) begonnen wurde.

In Kontrollen nach der stationären Aufnahme bestätigten sich zunächst die auffälligen Werte. Die Aminosäurenanalytik ergab keinen auffälligen Befund. Isovalerylcarnitin im Urin war mit 16,9 µmol/mol Kreatinin [< 3] zwar erhöht, Isovalerylglycin war aber nicht nachweisbar. Somit wurde die Verdachtsdiagnose auf Isovalerianazidämie bei dem Jungen nicht bestätigt.

Im Verlauf normalisierten sich die auffälligen Stoffwechselwerte und die stationäre Behandlung konnte beendet werden. Das Kind konnte mit Muttermilch ernährt und die Substitution mit Carnitin abgesetzt werden.

Als mögliche Ursache für den falsch-positiven Screening-Befund wird eine antibiotische Behandlung der Mutter mit Pivmecillinam (2 × 400 mg/d) wegen einer Harntransportstörung kurz vor der Geburt genannt.

Die Isovalerianazidämie (IVA) ist eine seltene angeborene Störung des Leucinstoffwechsels, verursacht durch einen Defekt des Enzyms Isovaleryl-CoA-Dehydrogenase. Der Defekt führt zu einer Akkumulation von Isovaleryl-CoA und dessen Metaboliten (z. B. Isovalerylcarnitin) im Blut und zu erhöhter Ausscheidung von Isovalerylglycin im Urin (4–6). Die Neugeborenen sind bei Geburt häufig klinisch unauffällig. (Unspezifische) Symptome wie Fütterungsstörungen, Erbrechen, muskuläre Hypotonie sowie Lethargie bis hin zum Koma treten aber häufig innerhalb der ersten zwei Lebenswochen bei nicht diagnostizierten, unbehandelten Neugeborenen auf (5;7). Gefährdet sind die Kinder insbesondere durch rezidivierende Episoden der metabolischen Dekompensation mit schweren Azidosen (5). Die langfristige Therapie besteht vor allem in einer Leucin-reduzierten Diät und der Gabe von L-Carnitin, ggf. ergänzt durch Glycin (4;5). Um die IVA bereits vor Auftreten von Symptomen zu detektieren und ggf. durch eine entsprechende Diät spätere Komplikationen zu vermeiden, ist in Deutschland das Screening auf IVA im erweiterten Neugeborenen-Screening enthalten (8).

Pivmecillinam ist der Pivaloyloxymethylester von Mecillinam. Es wird nach oraler Applikation gut resorbiert und anschließend im Körper zum aktiven Wirkstoff Mecillinam sowie zu Pivalinsäure hydrolysiert. Pivalinsäure wird teilweise als Konjugat mit Carnitin ausgeschieden (1;2).

Pivaloylcarnitin ist in der Massenspektrometrie, die im Neugeborenen-Screening eingesetzt wird, isobar zu Isovalerylcarnitin, wodurch es zu einer Peaküberlagerung kommen kann, die eine Isovalerianazidämie vermuten lässt (9–11). Durch geeignete ergänzende Testverfahren können Isovalerylcarnitin und Pivaloylcarnitin unterschieden und so falsch-positive Ergebnisse beim Neugeborenen-Screening durch Peaküberlagerung vermieden werden (7;10–12).

Zusammenfassung und Empfehlung der AkdÄ:

Die mütterliche Einnahme von Pivmecillinam kurz vor der Geburt kann zu falsch-positiven Screening-Befunden mit Verdacht auf IVA beim Neugeborenen führen. Bei Verdacht auf IVA sollten die Neugeborenen umgehend in einem Zentrum mit Erfahrung in der Diagnostik und Therapie von angeborenen Stoffwechselstörungen weiter untersucht und behandelt werden.

Ärzte sollten die Möglichkeit falsch-positiver Screening-Befunde kennen und bei der Anamnese gezielt nach einer Behandlung der Mutter mit Pivmecillinam in den Tagen vor der Geburt fragen. Da Pivalinsäurederivate (als Neopentanoat) auch als Weichmacher z. B. in Salben zur Pflege der Brustwarzen enthalten sein können, sollte gezielt auch danach gefragt werden (7;13).

Wenn ein Pivmecillinam-bedingter falsch-positiver Befund vermutet wird, sollte mit einem geeigneten Zweitverfahren die Diagnose verifiziert werden. Die Screening-Protokolle sollten so modifiziert werden, dass bei Verdacht auf IVA immer ein Bestätigungstest vom Labor durchgeführt wird, um den Anteil an falsch-positiven Befunden zu minimieren.

Schließlich sollte ein Hinweis auf mögliche falsch-positive Screening-Befunde bei Anwendung Pivmecillinam-haltiger Arzneimittel kurz vor der Geburt in die Fachinformationen aufgenommen werden.

Literatur

  1. LEO Pharma A/S: Fachinformation „X-Systo® 400 mg Filmtabletten“. Stand: März 2017.
  2. Apogepha Arzneimittel GmbH: Fachinformation „Pivmelam® 200 mg/400 mg Filmtabletten“. Stand: September 2017.
  3. Leitlinienprogramm DGU, AWMF: Interdisziplinäre S3 Leitlinie: Epidemiologie, Diagnostik, Therapie, Prävention und Management unkomplizierter, bakterieller, ambulant erworbener Harnwegsinfektionen bei erwachsenen Patienten. Version 1.1.-2: www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/043-044l_S3_Harnwegsinfektionen_2017-05.pdf (letzter Zugriff: 17. Dezember 2018). AWMF Registernummer: 043/044, 2017.
  4. Pinto A, Daly A, Evans S et al.: Dietary practices in isovaleric acidemia: A European survey. Mol Genet Metab Rep 2017; 12: 16–22.
  5. El-Hattab AW: Inborn errors of metabolism. Clin Perinatol 2015; 42: 413–439.
  6. Schlune A, Riederer A, Mayatepek E, Ensenauer R: Aspects of newborn screening in isovaleric acidemia. Int J Neonatal Screen 2018; 4: 7.
  7. Bonham JR, Carling RS, Lindner M et al.: Raising awareness of false positive newborn screening results arising from pivalate-containing creams and antibiotics in Europe when screening for isovaleric acidaemia. Int J Neonatal Screen 2018; 4: 8.
  8. Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA): Richtlinie über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern (Kinder-Richtlinie: www.g-ba.de/downloads/62-492-1537/RL_Kinder_2017-10-19_iK-2018-03-16.pdf (letzter Zugriff: 4. November 2018). In Kraft getreten am 16. März 2018.
  9. Abdenur JE, Chamoles NA, Guinle AE et al.: Diagnosis of isovaleric acidaemia by tandem mass spectrometry: false positive result due to pivaloylcarnitine in a newborn screening programme. J Inherit Metab Dis 1998; 21: 624–630.
  10. Carling RS, Burden D, Hutton I et al.: Introduction of a simple second tier screening test for C5 isobars in dried blood spots: Reducing the false positive rate for isovaleric acidaemia in expanded newborn screening. JIMD Rep 2018; 38: 75–80.
  11. Poggiali S, Ombrone D, Forni G et al.: Reducing the false-positive rate for isovalerylcarnitine in expanded newborn screening: the application of a second-tier test. J Inborn Errors Metab Screen 2016; 4: 1–7.
  12. Minkler PE, Stoll MSK, Ingalls ST, Hoppel CL: Selective and accurate C5 acylcarnitine quantitation by UHPLC-MS/MS: Distinguishing true isovaleric acidemia from pivalate derived interference. J Chromatogr B Analyt Technol Biomed Life Sci 2017; 1061–1062: 128–133.
  13. Boemer F, Schoos R, de Halleux V et al.: Surprising causes of C5-carnitine false positive results in newborn screening. Mol Genet Metab 2014; 111: 52–54.