Hirnblutung bei einem Säugling nach unzureichender Vitamin-K-Prophylaxe (Aus der UAW-Datenbank)
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 112, Heft 41, 09.10.2015
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 112, Heft 41, 09.10.2015
Der AkdÄ wurde über einen sechs Wochen alten Jungen berichtet, der wegen Trinkschwäche, Erbrechen und Gewichtsverlust von 400 g in vier Tagen (ca. 10 % des Körpergewichtes) in deutlich reduziertem Allgemeinzustand in der Klinik vorgestellt wurde. Der Junge war apathisch, reagierte nicht auf Schmerzreize, der Muskeltonus war schlaff und die Fontanelle gespannt. Die Schädelsonografie zeigte eine Aufweitung des Ventrikelsystems (Hydrocephalus internus) und eine inhomogene echoreiche Raumforderung in der hinteren Schädelgrube, deren Ursache zunächst nicht klar war. Die Kernspintomographie des Gehirns ergab den Befund einer infratentoriellen Raumforderung mit unterer Einklemmung im Foramen magnum und hypoxisch-ischämischer Hirnschädigung mit Beteiligung des Groß- und Kleinhirns und der Stammganglien. In der unmittelbar anschließenden neurochirurgischen Operation konnte ein Tumor ausgeschlossen werden. Es wurden mehrere Blutkoagel in der hinteren Schädelgrube entfernt und zunächst eine externe Ventrikeldrainage angelegt, die einige Tage später durch einen ventrikulo-peritonealen Shunt ersetzt wurde. Hinweise auf eine Fehlbildung der intrakraniellen Gefäße ergaben sich nicht.
Laborchemisch fand sich bei stationärer Aufnahme eine ausgeprägte Störung der plasmatischen Gerinnung mit nicht messbarer INR und einer PTT von 108 Sekunden. Die Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren II, VII und X waren deutlich vermindert (2 %, 8 % und 2 %, Faktor IX wurde nicht untersucht). Nach Gabe von PPSB und Frischplasma (fresh frozen plasma, FFP) sowie 0,2 mg Vitamin K intravenös normalisierte sich die Blutgerinnung innerhalb von 4 Stunden (INR 0,96, PTT 33 sec). Somit konnte als Ursache für die Hirnblutung ein Mangel der in der Leber synthetisierten Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren II, VII und X diagnostiziert werden. Andere Gerinnungsfaktoren, wie zum Beispiel der Faktor V, lagen im Normbereich.
Anamnestisch war der Junge reifgeboren und wurde voll gestillt. Nach Beratung durch das Geburtshaus erhielt er eine tägliche Dosis von 28 µg Vitamin K oral in einer öligen Tinktur. Auf eine Bolusgabe nach der Geburt war verzichtet worden, die tägliche Gabe durch die Eltern sei aber zuverlässig gewesen. Das verwendete Rezepturpräparat wurde untersucht und enthielt die korrekte Konzentration an Vitamin K. Hinweise auf eine Resorptionsstörung bei dem Kind ergaben sich nicht.
In Folge der hypoxisch-ischämischen Hirnschädigung kam es zur zystischen Umwandlung des gesamten Kortex. Im Alter von vier Monaten ist der Junge neurologisch schwer beeinträchtigt.
Wegen der geringen Plazentapassage von Vitamin K und dem niedrigen Gehalt in der Muttermilch muss bei etwa 7 von 100.000 voll gestillten Kindern ohne Vitamin-K-Prophylaxe mit einer Blutung aufgrund eines Vitamin-K-Mangels gerechnet werden.
Unterschieden werden frühe, klassische und späte Vitamin-K-Mangelblutungen: Die frühen, häufig schwerwiegenden treten in den ersten 24 Stunden nach der Geburt auf und lassen sich in der Regel auf die Einnahme von Vitamin-K-hemmenden Arzneimitteln während der Schwangerschaft zurückführen, wie z. B. Antiepileptika, orale Antikoagulanzien und Isoniazid. Die sogenannten klassischen Blutungen treten zwischen 24 Stunden und sieben Tagen nach der Geburt auf und erklären sich durch ein Absinken des Vitamin-K-Spiegels beim Neugeborenen, bevor die Speicher nach Abtrennung vom mütterlichen Kreislauf aufgefüllt sind. Ihr Schweregrad ist sehr variabel. Späte Blutungen werden von der zweiten bis zur 24. Woche nach Geburt beobachtet und sind häufig schwere Hirn- oder gastrointestinale Blutungen. Aufgrund des geringen Vitamin-K-Gehalts in der Muttermilch sind gestillte Kinder gefährdeter; weitere Risikofaktoren sind Erkrankungen, die zur Malabsorption führen, wie die zystische Fibrose und cholestatische Lebererkrankungen.
Zur Verhinderung von Vitamin-K-Mangelblutungen ist die Substitution von Vitamin K bei Neugeborenen empfohlen und gängige Praxis. Sie wird in vielen Ländern mittels intramuskulärer Applikation von 1 mg Vitamin K nach der Geburt durchgeführt, mit der sich klassische und späte Vitamin-K-Mangelblutungen fast vollkommen verhindern lassen (Risiko < 0,2/100.000) (1;2). Anfang der 1990er Jahre war der Verdacht aufgekommen, die intramuskuläre Gabe von Vitamin K könne mit einem erhöhten Risiko für bestimmte Krebsformen des Kindesalters verbunden sein (3). Spätere Studien konnten einen Zusammenhang nicht bestätigen, jedoch auch nicht mit letzter Sicherheit ausräumen (4). Daher wird heute in einigen Ländern die orale Gabe bevorzugt.
Aktuell wird in Deutschland die dreimalige orale Gabe von jeweils 2 mg Vitamin K am 1. Lebenstag (U1), zwischen dem 3. und dem 10. Lebenstag (U2) und erneut zwischen der 4. und der 6. Lebenswoche (U3) empfohlen (5). Diese Form der Prophylaxe kann aber nicht alle Fälle von späten Vitamin-K-Mangelblutungen verhindern, insbesondere bei gestillten Kindern mit Cholestase (5). In einigen Situationen ist weiterhin eine parenterale Gabe zu bevorzugen, z. B. bei Reifgeborenen mit schlechtem Allgemeinzustand, bei Verdacht auf Resorptionsstörungen und bei Zweifeln an der Durchführbarkeit der dreimaligen oralen Vitamin-K-Gabe oder bei Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g.
Die im dargestellten Fall durchgeführte Vitamin-K-Prophylaxe ist angelehnt an ein Vorgehen, das in den Niederlanden praktiziert wurde (6). Dort war jedoch die orale Gabe von 1 mg direkt nach der Geburt Teil der Prophylaxe, die hier nicht durchgeführt wurde. In den Niederlanden wurde dieses Vorgehen 2011 verlassen, da nicht für alle Kinder ein ausreichender Schutz vor Blutungen erzielt wurde. In Deutschland wird das im Fallbericht angewandte Schema im Rahmen der anthroposophischen Medizin als eine von mehreren Alternativen empfohlen (7). Der dargestellte Fall lässt das angewandte Schema als besonders bedenklich erscheinen, weil bei dem Kind, außer dass es gestillt wurde, keine Risikofaktoren für eine Vitamin-K-Mangelblutung wie Frühgeburt oder Resorptionsstörungen vorlagen. Wegen nicht hinreichender Schutzwirkung wird diese Methode von der Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) nicht empfohlen (5).
Aus den USA, wo die intramuskuläre Gabe von Vitamin K Standard ist, gibt es Berichte über eine Zunahme von Mangelblutungen bei Neugeborenen im Zusammenhang mit einer Verweigerung der Prophylaxe durch die Eltern (8;9). Eine kanadische Untersuchung zeigte kürzlich, dass die Vitamin-K-Prophylaxe häufiger verweigert wird, wenn die Geburt durch eine Hebamme anstatt durch ärztliche Geburtshelfer begleitet wurde oder wenn es eine geplante Hausgeburt war (10).
Um Neugeborene möglichst sicher vor Vitamin-K-Mangelblutungen zu schützen, sollte die Prophylaxe nach Aufklärung der Eltern entsprechend den derzeit gültigen Empfehlungen der Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin durchgeführt werden (5). Alternative Schemata bieten nicht in allen Fällen einen ausreichenden Schutz und gehen aufgrund der notwendigen täglichen Gabe von Vitamin K mit einem erhöhten Risiko für Unterdosierungen einher, wenn
z. B. die Verabreichung nicht zuverlässig erfolgt.