Intraossäre Gabe von Lidocain zur Schmerztherapie bei pädiatrischen Patienten – eine nicht sachgerechte, potenziell gefährliche Off-Label-Empfehlung („Aus der UAW-Datenbank“)
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 119, Heft 48, 02.12.2022
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 119, Heft 48, 02.12.2022
Der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) wurde der Fall eines Säuglings berichtet, der in einer Notfallsituation mit verschiedenen Arzneimitteln behandelt wurde. Unter anderem kam Lidocain als intraossäre Injektion zur Analgesie zur Anwendung, um starken Schmerzen bei der intraossären Infusion weiterer Arzneimitteln und Flüssigkeitsersatz vorzubeugen. Anlässlich dieses Berichts wird im Folgenden die intraossäre Gabe von Lidocain zur Schmerzbehandlung bei pädiatrischen Patienten näher beleuchtet.
Die Anlage eines venösen Zugangs bei Säuglingen und Kleinkindern ist für nicht trainierte Ärztinnen und Ärzte eine große Herausforderung, insbesondere in Notfallsituationen. Deswegen wurden die intraossäre Injektion und Infusion als gute Alternative propagiert, und sie werden auch bei pädiatrischen Notfällen angewendet (1). Ein intraossärer Zugang ist ein in der Cavitas medullaris (Markhöhle) eines Knochens platzierter Zugang, der als temporäre Alternative zu venösen Gefäßzugängen dient und die Gabe von Arzneimitteln und Volumenersatz im Notfall ermöglicht. Eine intraossäre Punktion wird empfohlen bei vitaler Gefährdung und wenn die Anlage eines intravenösen Zugangs misslingt bzw. zu einer Verzögerung einer zeitkritischen medikamentösen Behandlung führen würde (1). Die Anlage der intraossären Infusionsnadel gelingt mit Hilfe von speziellen Punktionssystemen in der Regel rasch und komplikationsarm (2). Die Technik wurde in einem Video der renommierten Fachzeitschrift New England Journal of Medicine im Jahre 2011 anschaulich und praxisnah dargestellt (3). Die Applikationssysteme für die Anlage einer intraossären Kanüle (spezielle Punktionssysteme) werden heute bei bedrohlichen Notfällen auch bei pädiatrischen Patienten erfolgreich eingesetzt (1;2).
Im oben beschriebenen Video wird eine intraossäre Vorbehandlung mit Lidocain bei bewusstseinsklaren Kindern propagiert zur Vermeidung von viszeralen Schmerzen durch den erhöhten intramedullären Druck. Es wird empfohlen, Lidocain in einer Dosis von 0,5 mg/kg Körpergewicht über die intraossäre Kanüle zu applizieren, um Schmerzen bei der intraossären Applikation von Arzneimitteln und Flüssigkeitsersatz zu vermeiden (3). Die Autoren eines Leserbriefs zum Videobeitrag äußern Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit und Sicherheit dieser vorgeschlagenen Therapie (4). Insbesondere weisen sie darauf hin, dass die wissenschaftliche Datenbasis für die erwünschte (lokale) Wirkung von Lidocain am Knochen und für die Sicherheit bei Kindern fehlt. Sie betonen die potenziellen systemischen Nebenwirkungen von Lidocain wie Blutdruckabfall, kardiale Arrhythmien und zerebrale Krampfanfälle. Sie weisen auch darauf hin, dass eine intraossäre Gabe von Opioiden als Alternative in Erwägung gezogen werden könnte, obwohl die Wirksamkeit dieses Ansatzes nicht erwiesen ist und Opioide auch potenzielle Nebenwirkungen haben. Allerdings sind Opioide bei medizinischen Notfällen häufig indiziert und zur Analgesie etabliert (4).
Dagegen ist die systemische Anwendung von Lidocain als Schmerzmittel in der Kindernotfallmedizin nach Kenntnis der AkdÄ nicht untersucht. Auch in anderen Indikationen wie postoperative Analgesie oder in der Onkologie sind die Daten spärlich (5). Im Erwachsenenalter ist die Datenlage für eine intraossäre Gabe von Lidocain zur Schmerztherapie nicht besser als bei pädiatrischen Patienten, wird aber auf Basis einiger kleiner, methodisch problematischer Beobachtungsstudien empfohlen, da die Anwendung als angeblich risikoarm bewertet wird (6;7).
Als Lokalanästhetikum wird Lidocain parenteral angewendet zur lokalen und regionalen Nervenblockade als Infiltrations- und Leitungsanästhetikum (8). Es vermindert die Membranpermeabilität für Kationen, insbesondere für Natrium. Dadurch ist der für das Aktionspotenzial erforderliche, plötzliche Anstieg der Natriumpermeabilität verringert, sodass die Funktionen erregbarer Strukturen wie Nervenfasern herabgesetzt und das Leitungsvermögen sensibler Nerven reversibel aufgehoben werden (8).
Lidocain wirkt darüber hinaus antiarrhythmisch und wird angewendet bei lebensbedrohlichen, ventrikulären tachykarden Herzrhythmusstörungen (9).
In der AWMF-Sk2-Leitlinie „Medikamentensicherheit bei Kindernotfällen“ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und weiterer Fachgesellschaften, Verbände und Interessenvertretungen werden Empfehlungen zur sachgerechten Notfalltherapie bei pädiatrischen Patienten gegeben, die wirksam und sicher sind (10). Dies gilt insbesondere auch für die Schmerztherapie im Kindernotfall. Berücksichtigt werden nicht nur zugelassene Arzneimittel, wie z. B. Morphin und Esketamin, sondern auch die wissenschaftlich basierte Off-Label-Anwendung. So ist das Opioid Fentanyl als sehr wirksames Schmerzmittel als i.v. Injektion formal zwar erst bei Kindern ab zwei Jahren zugelassen (11), aber es ist seit Jahrzehnten in der Neonatologie national wie international das am häufigsten zur Analgosedierung verwendete Opioid (10;12). Für Früh- und Reifgeborene liegen aussagekräftige pharmakokinetische Daten und valide Dosierungsvorschläge vor, die aber nicht für eine Zulassung verwendet wurden (10). Die Anwendung von Fentanyl bei Kindern unter zwei Jahren stellt daher eine wissenschaftlich fundierte, sachgerechte Pharmakotherapie außerhalb der Zulassung dar (Off-Label-Use). In der Leitlinie sind gewichtsabhängige Dosierungen sowie kindgerechte Applikationswege (z. B. intranasale Anwendung) angegeben. Die verfügbaren Fentanyl-haltigen Nasensprays (Instanyl® und PecFent®) sind formal ab 18 Jahren zugelassen und werden daher auch im Rahmen eines Off-Label-Use angewendet (13). Wie bei Off-Label-Anwendung im Allgemeinen, gelten auch hier spezielle Aufklärungspflichten (10).
Nach Ansicht der AkdÄ ist das Konzept einer intraossären Vorbehandlung mit Lidocain zur Vermeidung von Schmerzen vor intraossärer Gabe von Arzneimitteln und Volumenersatz bei pädiatrischen Patienten abzulehnen, da der Wirkstoff wegen seiner unberechenbaren systemischen Wirkung gefährlich sein kann. Außerdem gibt es Alternativen einer Schmerztherapie mit Opioiden wie z. B. Morphin oder Fentanyl.
Die Empfehlung einer wissenschaftlich nicht begründeten, nicht sachgerechten intraossären Off-Label-Therapie mit Lidocain bei pädiatrischen Patienten wurde teilweise unkritisch in deutsche und europäische Leitlinien (AWMF und ERC) übernommen (1;14). Sowohl in der Leitlinie „Medikamentensicherheit bei Kindernotfällen“ (10) als auch im Kinderformularium.DE (15), einer evidenzbasierten Datenbank für die Anwendung von Arzneimitteln bei Kindern, wird die intraossäre Gabe von Lidocain zur Schmerzprävention nicht empfohlen, da aufgrund der fehlenden Evidenzbasis und aufgrund von Sicherheitsbedenken ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis nicht gegeben ist. Kinderformularium.DE, das aus dem Aktionsplan Arzneimittelsicherheit des Bundesministeriums für Gesundheit entstanden ist, dient als Hilfestellung für die sachgerechte, evidenzbasierte Pharmakotherapie von Kindern, gerade auch bei Anwendungen von Arzneimitteln außerhalb der Zulassung.
Bitte teilen Sie der AkdÄ Nebenwirkungen (auch Verdachtsfälle) mit. Sie können online über unsere Website www.akdae.de melden oder unseren Berichtsbogen verwenden, der regelmäßig im Deutschen Ärzteblatt abgedruckt wird.
Die intraossäre Off-Label-Applikation von Lidocain zur „lokal-systemischen“ Schmerzbehandlung bei pädiatrischen Patienten ist wissenschaftlich nicht fundiert. Sie sollte nicht angewendet werden, da sie die Sicherheit von Kindern gefährden kann und alternative, besser untersuchte Wirkstoffe zur Verfügung stehen. Da manche Arzneimittel, die aufgrund guter Evidenz in Leitlinien empfohlen werden, für diese Altersgruppe bzw. Indikation ebenfalls keine Zulassung besitzen, sind gegebenenfalls spezielle Aufklärungs- und Dokumentationspflichten zu beachten.
Im Deutschen Ärzteblatt (Dtsch Arztebl 2022; 119(41): A-2157 / B-1781) ist der Artikel in der Rubrik Bekanntgaben der Herausgeber (Bundesärztekammer) als Mitteilung erschienen.