Leukenzephalopathie und Hirnödem unter Etanercept (Aus der UAW-Datenbank)
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 112, Heft 40, 02.10.2015
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 112, Heft 40, 02.10.2015
Das Immunsuppressivum Etanercept ist in Kombination mit Methotrexat zur Behandlung der mittelschweren bis schweren rheumatoiden Arthritis bei Erwachsenen zugelassen, falls das Ansprechen auf Basistherapeutika, einschließlich Methotrexat, unzureichend ist. Wenn Methotrexat unverträglich ist oder die Behandlung mit Methotrexat nicht fortgesetzt werden kann, stellt Etanercept auch als Monotherapie eine Alternative dar. Etanercept ist zudem zugelassen zur Behandlung der schweren, aktiven und progressiven rheumatoiden Arthritis bei Erwachsenen, die zuvor nicht mit Methotrexat behandelt worden sind (1). Etanercept wird weiter angewendet bei verschiedenen klinischen Situationen der juvenilen idiopathischen Arthritis, der Psoriasis-Arthritis, der ankylosierenden Spondylitis, der nicht-röntgenologischen axialen Spondyloarthritis sowie bei Plaque-Psoriasis (1).
Etanercept gehört zur Gruppe der Tumornekrosefaktor(TNF)-Inhibitoren. TNF ist ein proinflammatorisches Zytokin, das eine zentrale Rolle im Entzündungsprozess der rheumatoiden Arthritis spielt. Durch Inhibition der Bindung von TNF an seine Zelloberflächenrezeptoren wird die biologische Aktivität von TNF gehemmt und die durch TNF hervorgerufene Zellreaktion verhindert (1).
Die in Deutschland zugelassenen TNF-Inhibitoren (Etanercept, Adalimumab, Infliximab, Golimumab) hatten im Jahr 2013 insgesamt ein Verordnungsvolumen von etwa 29 Mio. definierten Tagesdosen (DDD), mit einem deutlichen Zuwachs an Verordnungen im Vergleich zum Vorjahr. Etanercept wies mit knapp 8 Mio. DDD das zweithöchste Verordnungsvolumen auf – nach Adalimumab (12,1 Mio. DDD) (2).
Der AkdÄ wurde ein Fall von Leukenzephalopathie und Hirnödem im Zusammenhang mit Etanercept gemeldet. Eine 34-jährige Patientin litt seit mehreren Jahren an einer seropositiven rheumatoiden Arthritis. Ein Therapieversuch mit Methotrexat scheiterte zweimal wegen Unverträglichkeit. Auch Leflunomid musste wegen Unverträglichkeit abgesetzt werden. Im weiteren Verlauf wurde eine Behandlung mit Etanercept (50 mg/Woche subkutan) begonnen und ein Jahr später zusätzlich mit Hydroxychloroquin (200 mg/d). Ferner nahm die Patientin seit Jahren durchgängig Prednisolon 5 mg/d sowie Pantoprazol 40 mg/d und nichtsteroidale Antirheumatika bei Bedarf ein. An weiteren Erkrankungen bestanden u. a. ein allergisches Asthma bronchiale, ein Lichen ruber verrucosus und eine unspezifische Ileitis terminalis.
Eineinhalb Jahre nach Beginn der Medikation mit Etanercept entwickelte die Patientin passagere, Sekunden anhaltende Episoden von horizontalen Doppelbildern sowie während der folgenden sechs bis acht Wochen zunehmende drückende, holozephale Kopfschmerzen (zuletzt Schmerzintensität 8/10), verbunden mit Photophobie, kurzzeitigem Schwankschwindel, Übelkeit und einmaligem Erbrechen. Diese Symptomatik machte letztlich eine stationäre Aufnahme erforderlich. Der neurologische Untersuchungsbefund und der psychopathologische Befund bei Aufnahme waren unauffällig, der Blutdruck betrug 130/80 mmHg. Die native kranielle Computertomographie zeigte ein diffuses Hirnödem. In der venösen CT-Angiographie ergab sich kein Hinweis auf eine Sinusvenenthrombose. In der Magnetresonanztomographie (nativ sowie mit Kontrastmittel; zusätzlich MR-Angiographie) war – dorsal betont und beschränkt auf die weiße Substanz – eine flächige Leukenzephalopathie des paraventrikulären Marklagers auffällig. Eine Kontrastmittelaufnahme bestand nicht. Im Liquor lag eine leichte Pleozytose von 14 Zellen pro µl mit nur geringer Einweißerhöhung vor. Die Patientin wies eine intrathekale Synthese von IgG, IgM und IgA auf. Hinweise auf eine infektiöse Genese (einschließlich Herpes-simplex-PCR und -Antikörper sowie JC-Virus-PCR) gab es im Liquor nicht. Beide Augen wiesen Stauungspapillen auf; im EEG bestand ein Herdhinweis rechts parietal.
Die Leukenzephalopathie wurde als am ehesten toxisch bedingt eingeschätzt und Etanercept abgesetzt. Im weiteren Verlauf besserten sich die klinischen Beschwerden. Allerdings war nach Absetzen von Etanercept und unter Fortführung der Gabe von Hydroxychloroqin und Prednisolon ein Rheumaschub aufgetreten, weswegen eine Behandlung mit Tocilizumab intitiiert wurde. Die ödematösen Veränderungen sowie die supraventrikulären Signalanhebungen in der zerebralen Bildgebung waren nach Absetzen von Etanercept teilweise rückläufig. Ein Restbefund war aber auch über vier Monate nach Beginn der Symptome nachweisbar.
Die erhobenen Befunde könnten zunächst im Sinne eines posterioren reversiblen Leukenzephalopathie-Syndroms (PRES) interpretiert werden. Hierunter versteht man eine ätiologisch uneinheitliche Gruppe von Erkrankungen, welche zu meist reversiblen, in der Regel posterior betonten zerebralen Veränderung führt. Häufigste Ursachen sind Hypertonie sowie immunsuppressive und zytotoxische Medikation (4). Nach Behandlung mit Etanercept (4;5) und anderen TNF-Inhibitoren (6) sind Fälle von PRES beschrieben worden. Im vorliegenden Fall spricht jedoch die klare Beschränkung der Schädigung auf die weiße Substanz, die bei PRES ungewöhnlich wäre, gegen diese Diagnose. Auch der Nachweis einer intrathekalen Immunglobulinsynthese spricht dagegen. Schließlich waren weder die Symptome der Patientin noch die bildmorphologischen Veränderungen vollständig rückläufig, sodass allenfalls eine PRES-Variante vorgelegen hat.
Differenzialdiagnostisch zu erwägen sind ferner demyelinisierende ZNS-Erkrankungen wie die akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM) . Demyelinisierende ZNS-Prozesse werden in der Literatur im Zusammenhang mit allen TNF-Inhibitoren berichtet (7;8;11–13). Die meisten Fälle treten innerhalb eines Jahres nach Behandlungsbeginn auf (8;12;13), überwiegend sind Frauen betroffen (8;11;13). Das Alter der betroffenen Patienten ist höher als es typischerweise bei der Erstmanifestation einer Multiplen Sklerose (MS) zu erwarten wäre, was möglicherweise Demyelinisierungsprozesse durch TNF-Inhibitoren von der sporadischen MS unterscheidet (8;11;13).
Gemäß Fachinformation sind demyelinisierende ZNS-Erkrankungen eine seltene Nebenwirkung (≥ 1/10.000 bis < 1/1000) von Etanercept. Bei Patienten mit vorbestehender demyelinisierender ZNS-Erkrankung oder mit erhöhtem Risiko für die Entwicklung einer solchen Erkrankung sollte Etanercept nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung eingesetzt werden (1). Infektionen unterschiedlichen Schweregrades, einschließlich opportunistischer Infektionen, können auftreten (1). In der Datenbank des deutschen Spontanmeldesystems finden sich weitere Fälle von Demyelinisierung im Zusammenhang mit TNF-Inhibitoren.
Durch TNF-Inhibitoren verursachten demyelinisierenden ZNS-Erkrankungen können verschiedene Pathomechanismen zugrunde liegen: TNF-Inhibitoren überwinden zwar selbst allenfalls in minimalem Ausmaß die Blut-Hirn-Schranke. Sie könnten aber durch eine Erhöhung von autoreaktiven T-Zellen, die die Blut-Hirn-Schranke passieren, eine demyelinisierende Erkrankung begünstigen. Mit ursächlich sein könnte ferner die Downregulation bestimmter TNF-Rezeptoren, die für die Proliferation von Oligodendrozyten und für Reparaturvorgänge erforderlich sind, oder die Upregulation von Interleukin-12 und Interferon-gamma, die mit demyelinisierenden Prozessen assoziiert sind. Schließlich könnten TNF-Inhibitoren latente Infektionen demaskieren und so einen demyelinisierenden Prozess verursachen (7;8). In diesem Zusammenhang muss vor allem bei immunsupprimierten Patienten und bei subakutem Verlauf auch an die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) gedacht werden, eine ebenfalls demyelinisierende Erkrankung, die durch Reaktivierung des JC-Virus verursacht wird (9). Die Erkrankung verläuft oft tödlich oder hinterlässt schwere bleibende Schäden (10). Für die PML liegen ebenfalls Berichte zu verschiedenen TNF-Inhibitoren vor (9;14;15).
Im vorliegenden Fall lag eine flächige Leukenzephalopathie vor und nicht fokale, kontrastmittelanreichernde Läsionen, sodass die Diagnose einer demyelinisierenden Erkrankung unwahrscheinlich scheint. Hinweise auf eine PML ergaben sich bei fehlendem Nachweis von JC-Virus im Liquor nicht).
Letztlich wurde bei der Patientin die Diagnose einer direkten toxischen Myelin-Schädigung durch Etanercept gestellt. Toxische Leukenzephalopathien können über verschiedene Pathomechanismen und durch unterschiedliche Arzneimittel (z. B. 5-Fluorouracil, Methotrexat) und Drogen (z. B. Heroin, Kokain) verursacht werden. Die klinischen Symptome sind unspezifisch und umfassen z. B. fokale neurologische Symptome, kognitive Veränderungen und Kopfschmerzen. Insbesondere bei akuten Verlaufsformen sind die Symptome nach Absetzen des ursächlichen Agens sowie unter supportiver und/oder spezifischer Behandlung häufig reversibel. Es können aber auch bleibende Schäden unterschiedlichen Ausmaßes persistieren (3).
Der dargestellte Fall sowie weitere Fallberichte in der Literatur weisen darauf hin, dass im Zusammenhang mit der Behandlung mit Etanercept in seltenen Fällen verschiedene Formen von ZNS-Reaktionen mit zumeist reversibler Schädigung der weißen Substanz auftreten können (16). Die Patienten sollten über diese Nebenwirkung und mögliche Symptome aufgeklärt werden. Bei neu aufgetretenen neurologischen Symptomen sollte umgehend eine sorgfältige Differenzialdiagnostik und Behandlung eingeleitet werden. Bei entsprechendem Verdacht sollte die Behandlung mit Etanercept pausiert bzw. beendet werden. Um die Datenlage zu Sicherheit und Wirksamkeit von biologischen Arzneimitteln einschließlich TNF-Inhibitoren zu verbessern, sollten Behandlungsverläufe in einem Register dokumentiert werden (z. B. RABBIT – Rheumatoide Arthritis: Beobachtung der Biologika-Therapie; http://www.biologika-register.de/home/).
Bitte teilen Sie der AkdÄ alle beobachteten Nebenwirkungen (auch Verdachtsfälle) mit. Sie können online über unsere Website www.akdae.de melden oder unseren Berichtsbogen verwenden, der regelmäßig im Deutschen Ärzteblatt abgedruckt wird.