QT-Verlängerung unter Galantamin (Aus der UAW-Datenbank)
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 112, Heft 16, 17.04.2015
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 112, Heft 16, 17.04.2015
Galantamin ist zugelassen zur symptomatischen Behandlung Erwachsener mit leichter bis mittelschwerer Demenz vom Alzheimer-Typ (1). Seine Wirkung entfaltet Galantamin durch Hemmung der Acetylcholinesterase sowie durch Verstärkung der intrinsischen Aktivität von Acetylcholin an nicotinergen Rezeptoren. Dies führt bei Patienten mit Alzheimer-Demenz zu einer gesteigerten Aktivität des cholinergen Systems und zu einer Verbesserung kognitiver Fähigkeiten (1). Typische Nebenwirkungen sind u. a. gastrointestinale Störungen (z. B. Übelkeit, Erbrechen, Diarrhoe), aber auch Bradykardie und Synkope (1). In Kanada informierte der Hersteller kürzlich in Abstimmung mit der zuständigen Behörde über schwere Hautreaktionen (z. B. Stevens-Johnson-Syndrom), die in sehr seltenen Fällen beobachtet wurden (2).
Galantamin und die beiden anderen in Deutschland zugelassenen Cholinesterasehemmer (Rivastigmin, Donepezil) hatten 2013 ein Verordnungsvolumen von 57 Millionen definierten Tagesdosen. Während Galantamin und Rivastigmin im Vergleich zum Vorjahr rückläufige Verordnungszahlen aufweisen, ist für Donepezil ein Zuwachs an Verordnungen zu verzeichnen (3).
Der AkdÄ wurde ein Fall von QT-Verlängerung im Zusammenhang mit Galantamin gemeldet (AkdÄ Fallnummer: 160342). Eine 86-jährige Patientin mit fortgeschrittener Demenz war im häuslichen Umfeld dreimal mit fraglichen Synkopen kollabiert, sodass die stationäre Aufnahme erfolgte. Thorakale Beschwerden oder Dyspnoe wurden nicht berichtet. An Vorerkrankungen wurden unter anderem eine arterielle Hypertonie und eine chronische Niereninsuffizienz dokumentiert. Bei Aufnahme lag bei gleichzeitig bestehendem Harnwegsinfekt das Kreatinin bei 1,50 mg/dl (GFR nach MDRD: 35,08 ml/min/1,73 m2), normalisierte sich aber im weiteren stationären Verlauf. Es gab Hinweise auf eine Exsikkose (reduzierter Hautturgor, trockene Schleimhäute). Die Patientin nahm Aliskiren 300 mg/d, Hydrochlorothiazid 25 mg/d sowie Galantamin 16 mg/d ein (Anwendungsdauer nicht bekannt). Das Natrium im Serum betrug 134 mmol/l, Kalium 3,68 mmol/l (Minimum im Verlauf: 3,45 mmol/l), Kalzium 2,21 mmol/l. Bei einer Herzfrequenz von 48 Schlägen pro Minute zeigte sich im EKG eine Verlängerung der QTc-Zeit auf 496 ms (Frequenzkorrektur nach Bazett). Galantamin wurde als mögliche Ursache hierfür angesehen und daraufhin abgesetzt. Es erfolgte eine Kaliumsubstitution, der Harnwegsinfekt wurde behandelt. Wegen nächtlicher Unruhe erhielt die Patientin im Verlauf Melperon (25 mg/d). Im Kontroll-EKG sechs Tage nach Aufnahme betrug die QTc-Zeit 431 ms (Frequenzkorrektur nach Bazett) bei einer Herzfrequenz von 86 Schlägen pro Minute. Die Patientin wurde nach zweiwöchiger stationärer Behandlung in die Kurzzeitpflege entlassen.
Eine verlängerte QT-Zeit im EKG (Long-QT-Syndrom, LQTS) tritt bei einer Störung der myokardialen Repolarisation auf und kann durch frühzeitige erneute Depolarisation zu Torsades-de-Pointes-Tachykardien führen. Die Arrhythmie ist zwar in der Regel selbstlimitierend (4, 5), kann aber auch in Kammerflimmern übergehen (6, 7). Folgen ventrikulärer Tachykardien können Schwindelgefühl, Synkopen, Herzstillstand oder plötzlicher Herztod sein (4). Da die Dauer des QT-Intervalls abhängig ist von der Herzfrequenz, muss für die Interpretation des EKG eine Frequenzkorrektur erfolgen (QTc-Zeit). Am häufigsten wird die Frequenzkorrektur nach Bazett verwendet, mit der jedoch bei steigender Herzfrequenz das QT-Intervall eher überschätzt wird (8).
Die Herzaktion wird durch den Ein- und Ausstrom von Ionen gesteuert. Kommt es durch eine Fehlfunktion der Ionenkanäle zu einem Überhang an positiv geladenen Ionen in den Kardiomyozyten, können eine Verlängerung der ventrikulären Repolarisation und eine prolongierte QT-Zeit resultieren (7, 9). Die meisten QT-verlängernden Arzneimittel entfalten ihren proarrhythmogenen Effekt durch Blockade des Kaliumkanals IKr, der durch das hERG-Gen (human Ether-a-go-go Related Gene) codiert wird (7–11). Dieser Mechanismus wird in einer präklinischen Studie auch für Galantamin angenommen (12).
Risikofaktoren für das LQTS sind neben genetischen Faktoren unter anderem Alter, weibliches Geschlecht, Hypertonie, Myokardischämie, Herzinsuffizienz, Bradykardie, Elektrolytstörungen (z. B. Hypokaliämie, Hypomagnesiämie) sowie die Einnahme von QT-verlängernden Arzneimitteln (7, 8, 11).
In der Fachinformation von Galantamin sind Bradykardie und Synkope als häufige Nebenwirkungen aufgeführt (≥ 1/100 bis < 1/10). Bei unbeabsichtigter Überdosierung wurden darüber hinaus Torsades-de-Pointes, QT-Verlängerung und ventrikuläre Tachykardie beobachtet. Arzneimittel, die Torsades-de-Pointes auslösen können, sollten gleichzeitig nur „mit Vorsicht“ und ggf. unter EKG-Kontrolle gegeben werden. Ferner muss beachtet werden, dass bei Patienten mit mittelschweren oder schweren Nierenfunktionsstörungen die Galantamin-Plasmaspiegel erhöht sein können. Jedoch ist bei Patienten mit einer Kreatinin-Clearance von > 9 ml/min laut Fachinformation keine Dosisanpassung erforderlich (2).
In der Literatur sind einzelne Fälle von QT-Verlängerung im Zusammenhang mit Galantamin (13, 14) sowie Donepezil und Rivastigmin beschrieben (15–18). Teilweise wird bei diesen Fällen auch über Torsades-de-Pointes berichtet (16–18). Die AkdÄ informierte über AV-Block und ventrikuläre Tachykardie im Zusammenhang mit Donepezil (19). In der Datenbank des deutschen Spontanmeldesystems sind weitere Fälle von QT-Verlängerung, Bradykardie und Synkope im Zusammenhang mit Galantamin erfasst.
Gemäß einer aktuellen Übersichtsarbeit (20) ist das Risiko für Synkopen bei Alzheimer-Patienten, die mit Acetylcholinesterase-Hemmern behandelt werden, im Vergleich zu unbehandelten Patienten erhöht (Hazard Ratio 1,76; 95 % Konfidenzintervall: 1,57–1,98). Das Risiko für Bradykardie wird bei behandelten im Vergleich zu unbehandelten Patienten auf das 1,5– bis 2-Fache geschätzt.
Im vorliegenden Fall spricht die Normalisierung der Herzfrequenz und der QT-Zeit sechs Tage nach Absetzen von Galantamin dafür, dass die Therapie mit Galantamin in der verabreichten Dosierung wahrscheinlich für die pathologisch verlängerte QT-Zeit und die Bradykardie verantwortlich war. Obwohl Synkopen (möglicherweise begünstigt durch symptomatische Bradykardie oder durch Kammertachykardien bei prolongierter QT-Zeit) zum bekannten Nebenwirkungsspektrum von Galantamin gehören, könnte auch die Begleitsymptomatik, insbesondere die bei Aufnahme bestehende Exsikkose, für die Manifestation der Synkopen mitverantwortlich gewesen sein.
Der dargestellte Fall sowie weitere Fallberichte in der gemeinsamen Datenbank des deutschen Spontanmeldesystems und in der Literatur weisen darauf hin, dass im Zusammenhang mit Galantamin eine verlängerte QT-Zeit im EKG auftreten kann. Bei ungeklärten Stürzen oder Synkopen unter Behandlung mit Galantamin sollten EKG-Kontrollen erfolgen, vor allem wenn weitere Risikofaktoren für QT-Verlängerung und Torsades-de-Pointes-Tachykardien vorliegen. Die Kombination mit anderen QT-verlängernden Arzneimitteln wie z. B. dem häufig verordneten Citalopram (21) sollte vermieden werden bzw. nur unter EKG-Kontrolle erfolgen. Grundsätzlich gilt bei einer medikamentösen Behandlung der Alzheimer-Demenz, dass die individuelle Wirkung regelmäßig, z. B. in halbjährlichem Abstand, evaluiert werden sollte (22). Fällt die Einschätzung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses beim individuellen Patienten negativ aus, sollte eine Beendigung der Behandlung erwogen werden.
Bitte teilen Sie der AkdÄ alle beobachteten Nebenwirkungen (auch Verdachtsfälle) mit. Sie können online über unsere Website www.akdae.de melden oder unseren Berichtsbogen verwenden, der regelmäßig im Deutschen Ärzteblatt abgedruckt wird.