Schwere Gewebeschädigungen nach Spülung tiefer Wunden mit Octenisept® („Aus der UAW-Datenbank“)
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 114, Heft 4, 27.01.2017
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 114, Heft 4, 27.01.2017
Octenisept® ist ein wässriges Wund- und Schleimhautantiseptikum. Es enthält zwei Wirkstoffe: Octenidindihydrochlorid, das mit Zellwandund Zellmembranbestandteilen der Mikrobenzelle reagiert und so zur Zerstörung der Zellfunktion führt, und Phenoxyethanol, das u. a. die Zellmembran durchlässiger für Kaliumionen macht und so antimikrobiell wirkt (1). Octenisept® ist zugelassen zur antiseptischen Behandlung von Schleimhaut und angrenzender Haut vor diagnostischen und operativen Maßnahmen im Ano-Genitalbereich und in der Mundhöhle sowie zur zeitlich begrenzten unterstützenden Therapie von Interdigitalmykosen und für adjuvante antiseptische Wundbehandlungen.
Ein 10-jähriges Mädchen war in einen langen rostigen Nagel getreten. Der Nagel hat ihren Turnschuh perforiert und war zwischen dem 2. und 3. Fußwurzelknochen durch die Fußsohle bis auf die Streckseite eingedrungen, ohne dort die Haut zu perforieren. Rettungssanitäter entfernten den Nagel. Im Krankenhaus wurde der Stichkanal in der Unfallnacht in Narkose kürettiert und mit Octenisept® gespült. Trotz Antibiotikatherapie mit Ampicillin/Sulbactam bildete sich eine zunächst als Phlegmone gedeutete Fußschwellung und Rötung aus, die operative Revisionen zwei und fünf Tage später nach sich zog. Dabei wurde eine Gegeninzision in der proximalen Fußsohle und am Fußrücken angelegt, die Stichkanäle kürettiert, Laschen eingelegt und jeweils mit Octenisept® gespült. Diese Spülungen wurden bei den Verbandswechseln auf Station fortgesetzt. Bakteriologische Abstriche blieben steril. Die Entzündungsparameter waren zu keinem Zeitpunkt signifikant erhöht. Da sich der Befund weiter verschlechterte und der Verdacht auf eine Osteitis im 2. und 3. Mittelfußknochen aufkam, wurde das Mädchen nach dreiwöchiger stationärer Behandlung in eine spezialisierte Abteilung verlegt. Dort musste erneut operativ revidiert werden. Der Fuß war erheblich geschwollen und plantar und dorsal um die Stichkanäle herum großflächig gerötet (siehe Abbildung 1). Der Stichkanal und die Gegeninzisionen waren schmierig belegt. Ein Großteil der zentralen Fußsohlenmuskulatur war gläsern abgeblasst, brüchig und teils fettig, teils bindegewebig umgebaut. Der Musculus plantaris communis, die Lumbrikalis- und Interosseusmuskulatur und die mittleren oberflächlichen Zehenbeuger mussten reseziert werden. Histologisch zeigte sich fibrolipomatös umgebaute Muskulatur ohne indirekten Erregernachweis. Mehrfach entnommene Abstriche blieben steril. Bei weiteren operativen Revisionen waren auch dorsale Mm. interossei und der M. adductor partiell in gleicher Weise verändert. Der Hautverschluss erfolgte über eine Wundkonditionierung des Fußrückendefektes mittels Vakuumpumpe und anschließender Vollhautdeckung. Der Defekt an der Fußsohle konnte sekundär verschlossen werden. Durch die Ruhigstellung über insgesamt zweieinhalb Monate war das Knochenskelett des Fußes im Verlauf kalksalzgemindert. Da wesentliche Anteile der das Fußgewölbe verspannenden Muskulatur reseziert werden mussten, ist mit einem deutlichen bleibenden Schaden am betroffenen Fuß zu rechnen.
Der dargestellte Fall zeigt typische Komplikationen, die nach Spülung von tiefen Wunden (z. B. Perforationswunden) mit Octenisept® auftreten können und sowohl in Literaturberichten (2–5) als auch in spontan gemeldeten Fällen immer wieder geschildert werden: Innerhalb von 24 Stunden tritt eine starke Schwellung und Rötung auf, die lange (über Monate) anhält und therapeutisch kaum zu beeinflussen ist. In den engen abgegrenzten Räumen von Händen und Füßen kann die Schwellung akut ein Kompartmentsyndrom verursachen, sodass notfallmäßig durch Kompartmentspaltung behandelt werden muss. Im Wundbereich und der näheren Umgebung können sich Fettgewebsnekrosen entwickeln und die betroffene Muskulatur erst fettig, dann fibrös umgebaut werden. Die frühen Reaktionen lassen an eine atypische oder protrahierte Phlegmone denken, ein Erregernachweis gelingt jedoch nicht. In der Fachinformation wird darauf hingewiesen, dass solche Reaktionen auftreten können, wenn tiefe Wunden mittels Spritze mit Octenisept® gespült werden. Ob die Wunde im dargestellten Fall während der Initialen Operation tatsächlich auf diese Weise – also mittels Spritze – mit Octenisept® gespült wurde, lässt sich nicht mehr eruieren. Bei einer Spülung eines Kanals mit einer Spritze wird immer ein gewisser Druck aufgebaut, wodurch das Octenisept® in das interstitielle Gewebe gelangt. Möglicherweise reicht aber bereits eine zu lange Kontaktzeit zwischen tiefem Gewebe und Octenisept®, um einen Gewebeschaden zu induzieren. Das Präparat ist nur zur oberflächlichen Anwendung bestimmt und soll mittels Tupfer aufgetragen oder aufgesprüht werden. Um Gewebeschäden zu vermeiden, darf das Präparat nicht mittels Spritze oder ähnlichen Applikationshilfen in die Tiefe des Gewebes eingebracht werden.
Zwischen 2008 und 2011 wurden insgesamt drei Rote-Hand-Briefe zu diesem Problem versendet und Anpassungen der Fach- und Gebrauchsinformationen vorgenommen, wie z. B. die Einführung eines sogenannten "Boxed Warning" (1; 6–8). Trotzdem gehen weiterhin Spontanmeldungen zu schweren Gewebeschäden ein, zum Beispiel nach Spülung von (naturgemäß englumigen) Tierbisswunden oder Spülung von Wunddehiszenzen mittels Knopfkanüle. Ähnliche Reaktionen wurden auch in der Veterinärmedizin nach Spülung von Bisswunden bei Hunden beobachtet (9).
Die Pathogenese der Gewebeschädigung ist nicht eindeutig geklärt. Zwar sind Fälle von Kontaktdermatitiden auf Octenisept® beschrieben (10), jedoch konnte in einer Fallserie von fünf phlegmonösen Reaktionen nach Wundspülung an Händen bei den drei am schwersten betroffenen Kindern eine Kontaktsensibilisierung mittels Epikutantest ausgeschlossen werden (3). Aus einer In-vitro-Untersuchung der Gewebetoxizität verschiedener lokaler Antiseptika zeigte sich für Octenisept® ein hoher Irritation Score (IS) von 14 (maximale Toxizität: 20) mit ausgeprägten Gefäßschäden (11). Die ausgeprägte Ödembildung in den beschriebenen Fällen spricht ebenfalls für eine Störung der Kapillarpermeabilität (3).
Das Wund- und Schleimhautantiseptikum Octenisept® ist nur zur oberflächlichen Anwendung bestimmt und soll mittels Tupfer oder Aufsprühen aufgetragen werden. Es darf nicht z. B. mittels Spritze in die Tiefe des Gewebes eingebracht werden. Die Spülung tiefer Wunden mit Octenisept® ist mit dem Risiko schwerer toxischer Gewebeschäden verbunden, vor allem wenn das Antiseptikum mittels Spritze in tiefes Gewebe eingebracht wird. In einigen Fällen haben solche Spülungen vor allem bei Kindern zu bleibenden Schäden und Funktionseinschränkungen geführt. Bei der Behandlung akuter tiefer, insbesondere verschmutzter Wunden ist ein chirurgisches Débridement indiziert. Eine zusätzliche Reinigung durch Spülungen ist nach fachgerechtem Débridement nicht erforderlich und sollte bei Kontamination nur unter Verwendung von NaCl 0,9 % oder Polyhexanid-haltigen Lösungen erfolgen. In einigen Fällen ist eine prophylaktische Antibiotikatherapie indiziert, z. B. bei Verdacht auf eine nekrotisierende Fasziitis oder bei erhöhter Infektionsgefahr wegen starker Verschmutzung, bei Crushverletzungen oder Abwehrminderung des betroffenen Patienten.
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