Sekundäres Raynaud-Syndrom nach Behandlung mit Interferon beta (Aus der UAW-Datenbank)
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 110, Heft 16, 19.04.2013
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 110, Heft 16, 19.04.2013
Interferon beta (IFN beta) wird seit Mitte der Neunzigerjahre zur Behandlung der multiplen Sklerose (MS) eingesetzt. Die verschiedenen Präparate sind zugelassen bei Patienten mit erstmaligem demyelinisierendem Ereignis (klinisch isoliertes Syndrom, KIS) und hohem Risiko für eine klinisch gesicherte MS, bei schubförmiger MS (relapsing-remitting, RRMS) sowie bei sekundär progredienter MS im akuten Stadium (1). Bei der primär progredienten Verlaufsform (PPMS) ist IFN beta nicht wirksam (2). Im Jahr 2011 wurden 13 Mio. DDD von IFN beta verordnet (3).
Der AkdÄ wurde der Fall einer Patientin, Jahrgang 1967, berichtet, die seit 2007 wegen einer MS dreimal pro Woche mit 250 µg IFN beta-1b s.c. behandelt wurde (AkdÄ-Fall Nr. 158061). Wegen einer Hypothyreose nach Strumektomie nahm sie außerdem 75 µg Levothyroxin täglich ein. Andere Vorerkrankungen oder Begleitmedikamente wurden nicht dokumentiert. Bis 2007 hatte sie geraucht (20 pack years). Ab etwa 2010 bemerkte die Patientin bläulich-livide Verfärbungen der Zehen beidseits. Vor allem in der kalten Jahreszeit trat auch ein Raynaud-Phänomen mit anfallsartigem Abblassen der Fußzehen auf. Die Beschwerden wurden als progredient geschildert. Trophische Störungen traten nicht auf. Mittels Doppler-Sonographie wurde eine fixierte akrale Durchblutungsstörung im Sinne einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit ausgeschlossen. Angiologisch ergab eine Oszillographie der Zehen eine deutlich verminderte Amplitude, die sich nach Nitrogabe nicht erhöhte. Laborchemisch zeigten sich niedrig erhöhte Titer von antinukleären Antikörpern mit stark positiven Werten für Autoantikörper gegen extrahierbare nukleäre Antigene (ENA) und SS-A (Ro). Die Kriterien für das Vorliegen eines systemischen Lupus erythematodes waren jedoch eindeutig nicht erfüllt. Klinisch gab es auch keine Hinweise auf eine andere Autoimmunerkrankung oder Kollagenose, insbesondere nicht auf eine Sklerodermie. Darüber hinaus erschien diese Diagnose unwahrscheinlich nach Unterlippenbiopsie mit negativem Eregbnis. Zusammenfassend besteht bei der Patientin ein Raynaud-Syndrom mit schon erheblicher irreversibler Einengung kleiner Arterien, das von den behandelnden Ärzten auf die Gabe von IFN beta zurückgeführt wurde. Die Behandlung der MS wurde daraufhin mit Glatirameracetat (Copaxone®) weitergeführt. Die Raynaud-Symptomatik ist im Verlauf unverändert.
Ein sekundäres Raynaud-Syndrom kann bei verschiedenen Kollagenosen, Vaskulitiden oder hämatologischen beziehungsweise onkologischen Erkrankungen auftreten. Die von uns beschriebene Patientin zeigte keine klinischen Anzeichen oder beweisenden Laborveränderungen für eine Sklerodermie. Allerdings kann ein Raynaud-Syndrom ein sehr früher Hinweis auf das Auftreten einer Sklerodermie sein und dieser um viele Jahre vorausgehen.
Raynaud-ähnliche Syndrome können durch verschiedene Medikamente ausgelöst werden: so zum Beispiel nach zentralen Stimulanzien (4), Betablockern, Clonidin (5) sowie nach den Zytostatika Bleomycin (6), Vinblastin (7) und Cisplatin (8). Im Zusammenhang mit IFN alpha wurden einige Fallberichte zu Raynaud-Syndromen publiziert mit nicht nur funktionellen, sondern auch morphologischen Veränderungen von Kapillaren (9, 10). Zu IFN beta sind bislang ebenfalls nur Einzelfälle bekannt geworden. In einem Review wurden Raynaud-Fälle nach IFN aus den Jahren 1967 bis 2001 untersucht (11): In 14 Fällen wurde IFN alpha angeschuldigt, fünfmal IFN gamma und dreimal IFN beta. Die Behandlungsdauer bis zum Auftreten der Reaktion lag im Mittel bei 15,5 Monaten (zwei Wochen bis 49 Monate). Die Ausprägung der Symptome reichte von einem leichten vorübergehenden Vasospasmus bis zu ausgeprägten arteriellen Verschlüssen der Finger mit Nekrosen. Nicht in allen Fällen, in denen IFN daraufhin abgesetzt wurde, bildeten sich die Symptome komplett zurück.
Im deutschen Spontanmeldesystem ist – außer dem oben beschriebenen Fall – ein weiteres Raynaud-Syndrom nach IFN beta erfasst sowie ein Fall, in dem bei einer Patientin mit MS nach elf Jahren Behandlung mit IFN beta eine Sklerodermie mit Raynaud-Syndrom aufgetreten ist.
Zusammenfassend kann man davon ausgehen, dass die Behandlung mit IFN beta in sehr seltenen Fällen zur Auslösung eines Raynaud-Syndroms führen kann. Wie die digitale Mikroangiopathie entsteht, ist unbekannt. Wenn Patienten entsprechende Symptome schildern, sollte diese Ursache erwogen und ggf. eine entsprechende Diagnostik eingeleitet werden. Ob bei Bestätigung eines Raynaud-Syndroms die Behandlung mit IFN beta beendet wird, kann nur im Einzelfall entschieden werden.