Therapierefraktäre Autoimmunthrombozytopenie nach Alemtuzumab zur Behandlung einer Multiplen Sklerose („Aus der UAW-Datenbank“)

Deutsches Ärzteblatt, Jg. 114, Heft 46, 17.11.2017

Deutsches Ärzteblatt, Jg. 114, Heft 46, 17.11.2017

Wirkungsweise, Zulassung und Nebenwirkungen von Alemtuzumab

Alemtuzumab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper, der an das Glykoprotein CD52 bindet, das besonders stark von T-(CD3 +) und B-Lymphozyten (CD19 +) exprimiert wird, aber auch auf natürlichen Killerzellen, Monozyten und Makrophagen vorkommt (1). Auf neutrophilen Granulozyten, Plasmazellen oder hämatopoetischen Stammzellen wird CD52 nur sehr schwach oder gar nicht exprimiert. Alemtuzumab wirkt nach Bindung an T- und B-Lymphozyten über eine antikörperabhängige, zellvermittelte Zytotoxizität und/oder komplementvermittelte Zytolyse.

Seit 2013 ist Alemtuzumab als Lemtrada® zugelassen zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit aktiver schubförmig-remittierender Multipler Sklerose (RRMS). Ursprünglich war der monoklonale Antikörper 2001 (damals MabCampath®) für die Behandlung der chronischen lymphatischen Leukämie vom B-Zell-Typ (B-CLL) zugelassen worden. Nachdem die Wirksamkeit bei der MS festgestellt wurde, hatte der Hersteller die ursprüngliche Zulassung zurückgegeben und die kommerziell interessantere für die MS-Behandlung beantragt, was von vielen Seiten kritisiert wurde (2). Während Lemtrada® in Europa „breit“ zugelassen wurde für erwachsene Patienten mit einer aktiven RRMS, schränkt die US-amerikanische Zulassung die Anwendung aufgrund des Sicherheitsprofils deutlich ein: Es soll dort nur bei Patienten eingesetzt werden, die auf zwei oder mehr Medikamente nicht ausreichend angesprochen haben (3).

Der Wirkmechanismus von Alemtuzumab bei MS ist nicht komplett verstanden. Es wirkt immunmodulatorisch, u. a. durch Depletion und Repopulation von Lymphozyten mit Veränderungen der Anzahl, Zusammensetzung und Eigenschaften einiger Lymphozytenuntergruppen, wie z. B. einer Erhöhung des Anteils an regulatorischen T-Zellen sowie an Gedächtnis-T- und -B-Lymphozyten.

Die Behandlung mit Alemtuzumab erfolgt in zwei Zyklen an fünf bzw. drei aufeinanderfolgenden Tagen im Abstand von einem Jahr mit jeweils 12 mg täglich als intravenöse Infusion. Nach diesen beiden Therapiezyklen werden die Patienten über vier Jahre nachbeobachtet (1).

Die wesentlichen, für Patienten relevanten Nebenwirkungen von Alemtuzumab sind autoimmune Reaktionen, infusionsassoziierte Reaktionen (IAR) und Infektionen. Unter letzteren sind z. B. Listeriosen einschließlich Listerienmeningitis zu beachten. Um das Risiko für diese bei Immunsuppression bedrohlichen Lebensmittelinfektionen mit Listerien zu senken, sollten Patienten, die mit Alemtuzumab behandelt werden, auf den Genuss von rohem oder nicht durchgegartem Fleisch, Weichkäse und unpasteurisierten Milchprodukten unbedingt verzichten (1;4).

Der AkdÄ wurde über einen 34-jährigen Patienten berichtet mit einer seit dem Jahr 2000 bekannten Multiplen Sklerose. Er war mit verschiedenen Arzneimitteln vorbehandelt worden (2001–2003: Interferon beta-1a, 2003–2004: Interferon beta-1b, 2006: Glatirameracetat, 2008–2013: Natalizumab, 2013–2014: Fingolimod, Mai–August 2014: Dimethylfumarat). Im Februar 2015 und März 2016 erhielt er dann zwei Therapiezyklen mit Alemtuzumab. Fünf Monate nach der letzten Alemtuzumab-Infusion fielen bei einer Routinekontrolle Thrombozytenwerte von 86.000 pro Mikroliter auf. Drei Wochen später waren die Thrombozyten auf 2000 pro Mikroliter abgefallen. Über die nächsten Monate erfolgten Therapieversuche mit Prednisolon, Dexamethason und Romiplostim, die zu keinem Anstieg der Thrombozytenwerte führten. Bei typischer Blutungsneigung mit Teerstuhl und einer Hämaturie wurde ein weiterer Versuch mit Dexamethason und intravenösen Immunglobulinen (IVIG) unternommen, der ebenfalls keinen Erfolg brachte. Der Patient klagte im Verlauf über starke Kopfschmerzen; als Ursache zeigte sich eine Subarachnoidalblutung, zunächst ohne Indikation für eine neurochirurgische Intervention. Differenzialdiagnosen für die ausgeprägte Thrombozytopenie (im Verlauf waren dann keine Thrombozyten im Blutbild mehr nachweisbar) wurden durch eine umfangreiche Diagnostik einschließlich Knochenmarkpunktion sorgfältig ausgeschlossen (u. a. HIV, Hepatitis, Helicobacter pylori, Lupus-Antikoagulans, paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH), thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP)). Gestützt wurde die Diagnose einer Immunthrombozytopenie durch den Nachweis von freien und gebundenen Antikörpern auf den Thrombozyten. Weitere Therapieversuche mit Immunglobulinen und Rituximab verliefen ebenfalls erfolglos, sodass eine Splenektomie durchgeführt wurde. Auch hierdurch ließ sich keine Besserung erzielen, eine Nebenmilz als Ursache hierfür konnte ausgeschlossen werden. Trotz aller Versuche, die Thrombozytopenie zu beheben, verstarb der Patient schließlich an den Folgen einer Kleinhirnblutung.

Verzögerte Immunthrombozytopenien und akute frühe Thrombozytopenien unter Alemtuzumab

Alemtuzumab kann aufgrund seines Wirkmechanismus schwere Autoimmunerkrankungen auslösen, die unter anderem die Schilddrüse, die Niere, aber auch Blutzellen betreffen können (z. B. Neutropenien, hämolytische Anämien und Panzytopenien) (1). Die Autoimmunthrombozytopenie (ITP) ist die häufigste Manifestation dieser autoimmunen, gegen Blutzellen gerichteten Reaktionen. Eine ITP ist gekennzeichnet durch die antikörper- und zellvermittelte Zerstörung von Thrombozyten, und auch die Nachbildung von Thrombozyten kann beeinträchtigt sein (5). Die Häufigkeit schwerer ITP im Zusammenhang mit Alemtuzumab wird in der Fachinformation mit 1 % angegeben. Das Paul-Ehrlich-Institut berichtete kürzlich über insgesamt 38 Fallmeldungen aus Deutschland über ITP, Thrombozytopenie beziehungsweise Thrombozytenabfall, die im Zusammenhang mit einer Alemtuzumab-Therapie aufgetreten waren (4).

Es handelt sich bei diesen Reaktionen auf Alemtuzumab nicht um eine typische arzneimittelinduzierte Immunthrombozytopenie, bei der die Antikörper nur in Anwesenheit des Arzneimittels binden. Vielmehr führt das Arzneimittel zu einer Fehlregulation des Immunsystems mit Bildung von Autoantikörpern gegen Thrombozyten, die nicht von Antikörpern bei der spontan auftretenden ITP unterschieden werden können (6).

Die ITP manifestiert sich nicht direkt nach der ersten Infusion von Alemtuzumab, sondern meist mit einer Latenzzeit von 14 bis 36 Monaten nach der ersten Infusion. Aus diesem Grund werden monatliche Blutbildkontrollen bis zu 48 Monate nach Beginn der Behandlung empfohlen. Bei dem beschriebenen Patienten ist die ITP 16 Monate nach der ersten Infusion von Alemtuzumab aufgetreten, also im typischen Zeitfenster für die Manifestation. Bereits in den Zulassungsstudien von Alemtuzumab für die MS wurden ITP mit starkem Abfall der Thrombozyten beobachtet, einschließlich eines tödlichen Verlaufs durch Hirnblutung infolge einer erst spät diagnostizierten ITP (7). Im Unterschied zum hier beschriebenen Fall sprachen die meisten Patienten jedoch entweder auf eine Erstlinientherapie mit Glukokortikosteroiden, intravenösen Immunglobulinen (IVIG) oder Anti-Rh(D)-Immunoglobulin an oder sie kamen mit Rituximab in Remission.

Zu unterscheiden von der hier dargestellten ITP sind selbstlimitierende, meist asymptomatische Thrombozytenabfälle in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem intialen fünftägigen Therapiezyklus, die kürzlich beschrieben worden sind (8). In einer Serie von 22 betroffenen Patienten traten bei drei Patienten milde Blutungssymptome auf. Bei allen Patienten in dieser Untersuchung normalisierte sich die Thrombozytenzahl innerhalb von zwei Monaten spontan ohne weitere spezifische Maßnahmen. Der Mechanismus dieser frühen Thrombozytopenie ist bislang unklar (4).

Zusammenfassung

Unter einer Behandlung der aktiven schubförmig-remittierenden Multiplen Sklerose (RRMS) mit dem Anti-CD-52-Antikörper Alemtuzumab kann es zu Immunthrombozytopenien (ITP) kommen, die sich meist mit einer Latenz von 14 bis 36 Monaten nach der ersten Infusion manifestieren. Die Häufigkeit schwerer ITP wird dabei mit 1 % angegeben. Eine aktuelle Meldung an die AkdÄ zeigt, dass Alemtuzumab-induzierte ITP in einigen Fällen therapierefraktär sind und dann auch tödlich verlaufen können. Diese schwere Nebenwirkung sollte gegenüber dem möglichen Nutzen für den einzelnen Patienten abgewogen werden. Der Patient sollte entsprechend aufgeklärt und bei der Entscheidung für eine Behandlung mit Alemtuzumab beteiligt werden. Monatliche Blutbildkontrollen sollen bis zu 48 Monate nach Beginn der Behandlung mit Alemtuzumab durchgeführt werden (siehe Fachinformation). Neben diesen verzögert auftretenden ITP sind frühe, meist asymptomatische Thrombozytenabfälle unter Alemtuzumab beobachtet worden, die selbstlimitierend sind. Um weitere Informationen zu diesen Nebenwirkungen zu gewinnen, bitten wir um die Meldung entsprechender Verdachtsfälle.


Literatur
  1. Genzyme GmbH: Fachinformation „Lemtrada® 12 mg Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung“. Stand: Juni 2016.
  2. Marktrücknahme von Alemtuzumab aus kommerziellen Gründen – ein Präzedenzfall. Arzneimittelbrief 2012; 46: 67–68.
  3. Genzyme Corporation: Label for Lemtrada: Approved 11/14/2014. Stand: November 2014.
  4. Heymans L, Keller-Stanislawski B: Nebenwirkungsprofil von Alemtuzumab(LEMTRADA®) im Anwendungsgebiet der multiplen Sklerose. Bulletin zur Arzneimittelsicherheit 2017; Ausgabe 2: 23–27.
  5. Cines DB, Bussel JB, Liebman HA, Luning Prak ET: The ITP syndrome: pathogenic and clinical diversity. Blood 2009; 113: 6511–6521.
  6. Reda G, Maura F, Gritti G et al.: Low-dose alemtuzumab-associated immune thrombocytopenia in chronic lymphocytic leukemia. Am J Hematol 2012; 87: 936–937.
  7. Cuker A, Coles AJ, Sullivan H et al.: A distinctive form of immune thrombocytopenia in a phase 2 study of alemtuzumab for the treatment of relapsing-remitting multiple sclerosis. Blood 2011; 118: 6299–6305.
  8. Ranganathan U, Kaunzner U, Foster S et al.: Immediate transient thrombocytopenia at the time of alemtuzumab infusion in multiple sclerosis. Mult Scler 2017: 1352458517699876.