Vitamin-D3-Überdosierung bei einem Säugling („Aus der UAW-Datenbank“)

Deutsches Ärzteblatt, Jg. 119, Heft 35-36, 05.09.2022

Deutsches Ärzteblatt, Jg. 119, Heft 35-36, 05.09.2022

Der AkdÄ wurde der Fall eines sieben Monate alten Säuglings gemeldet, der wegen Gewichtsabnahme (-7 % in drei Wochen), Exsikkose und Vigilanzminderung auf die Intensivstation aufgenommen wurde. Es bestanden eine ausgeprägte Elektrolytstörung (Kalium 6,6 mmol/l, Natrium 105 mmol/l, Kalzium 4,18 mmol/l) sowie in der Sonographie eine Nephrokalzinose Grad II. Ein adrenogenitales Syndrom mit Salzverlust wurde ausgeschlossen. Ebenso gab es keinen Hinweis auf eine Störung der Nebennieren- und Schilddrüsenfunktion.

Das Gespräch mit den Eltern ergab, dass der kleine Patient zwar anfänglich die ärztlich verordnete Vitamin-D-Prophylaxe mit 500 IE/d (12,5 µg/d) erhalten hatte. Seit etwa fünf Monaten war auf Anraten von Freunden jedoch auf ein hochkonzentriertes Vitamin-D-haltiges Nahrungsergänzungsmittel umgestellt worden, das über das Internet bezogen wurde. Täglich erhielt der Säugling etwa 40 Tropfen Vitamin D3 (ca. 40.000 IE entsprechend 1000 µg). Die Konzentration von 25-Hydroxycholecalciferol im Serum war mit über 600 µg/l (Referenzbereich 20–70 µg/l) extrem erhöht, Parathormon (intakt) war mit 4,4 ng/l (Ref. 15–65 ng/l) deutlich supprimiert. Es wurde die Diagnose einer ausgeprägten chronischen Vitamin-D-Intoxikation mit Hyperkalziämie und Nephrokalzinose gestellt.

Unter passagerer Prednisolon- und Furosemid-Behandlung sowie kalziumarmer Diät und Ausgleich der Elektrolyte besserte sich der Zustand des Kindes. Die Vitamin-D-Substitution wurde beendet. Furosemid sowie die kalziumarme Diät wurden ambulant fortgeführt. Drei Wochen nach der Entlassung betrugen die Konzentrationen von Natrium 139 mmol/l, von Kalium 4,4 mmol/l und von Kalzium 2,75 mmol/l. Die Konzentration von 25-Hydroxycholecalciferol lag noch bei 278 ng/ml. Die langdauernde Erhöhung von Vitamin D ist durch die sehr lange Halbwertszeit des Wirkstoffs begründet.

Vitamin D ist ein Oberbegriff für verschiedene Substanzen. Dazu zählen das pflanzliche Ergocalciferol (Vitamin D2) sowie Cholecalciferol (Vitamin D3). Letzteres kann unter Einwirkung von UV-Licht aus 7-Dehydrocholesterol in der Haut gebildet werden und ist somit kein Vitamin im eigentlichen Sinn. Vitamin D3 kommt darüber hinaus in Lebensmitteln tierischer Herkunft vor. Nach Umwandlung in die Speicherform Calcidiol in der Leber werden Ergocalciferol und Cholecalciferol in der Niere in das aktive Calcitriol (1,25-Dihydroxycholecalciferol) überführt. Dieser Wirkstoff fördert die Kalziumresorption aus dem Darm und reguliert die Kalziumrückresorption in der Niere und ist somit an der Aufrechterhaltung der physiologischen Kalziumkonzentration und an der Knochengesundheit beteiligt (1).

Bei Erwachsenen kann ein Vitamin-D-Mangel zu Osteomalazie führen und eine Osteoporose begünstigen. Eine adäquate Vitamin-D-Zufuhr senkt das Risiko von Stürzen und Frakturen bei Älteren (1). Eine Vitamin-D-Mangel-Rachitis kann bei unzureichender Vitamin-D-Versorgung vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern auftreten (2). Für alle Säuglinge in Deutschland wird daher zusätzlich zur Vitamin-D-Zufuhr mit Muttermilch oder Säuglingsnahrung eine orale Supplementierung mit 400–500 IE Vitamin D3 pro Tag (10–25 µg) bis zum zweiten erlebten Frühsommer mit dann höherer UV-Exposition und Vitamin-D-Eigensynthese empfohlen, also je nach Geburtszeitpunkt für die Dauer von 1–1,5 Jahren. Die Vitamin-D3-Gabe sollte kombiniert mit der Fluoridprophylaxe erfolgen (3). Frühgeborene sollten in den ersten Lebensmonaten eine tägliche Zufuhr von 800–1000 IE Vitamin D per os (bzw. 60–400 IE/d parenteral) erhalten (4). Als höchste sichere tägliche Zufuhr gelten bei Säuglingen 25–35 µg/d, wobei dieser Wert deutlich über dem eigentlichen physiologischen Bedarf liegt. Für ältere Kinder und Erwachsene gelten andere Werte (1, 5).

Vitamin D3 wird nicht nur als Arzneimittel vertrieben, sondern unter anderem auch als Nahrungsergänzungsmittel. Die Arzneimittel dienen der Prophylaxe und Behandlung krankhafter Zustände, während Nahrungsergänzungsmittel die allgemeine Ernährung ergänzen (1). Vitamin-D3-haltige Fertigarzneimittel sind unter anderem zugelassen zur Vorbeugung und Behandlung eines Vitamin-D-Mangels, zur unterstützenden Behandlung der Osteoporose und zur Prophylaxe von Rachitis (Details sind den jeweiligen Fachinformationen zu entnehmen, z. B. (6-8).

Eine langfristige Überdosierung von Vitamin D3 kann zu Hyperkalzämie führen und potenziell lebensbedrohlich sein. Kalzium-Ablagerung in Gefäßen und Geweben, insbesondere der Niere, kann die Folge sein. Die Symptome können unspezifisch sein (z. B. gastrointestinale Symptome, Dehydratation, Kopf-, Muskel- und Gelenkschmerzen, Bewusstseins- und Herzrhythmusstörungen) (6-8).

Die AkdÄ informierte wiederholt über Fälle von Vitamin-D-Überdosierung bei Erwachsenen, die eigenständig hochdosierte Vitamin-D3-Präparate angewendet haben (9, 10). Bei Säuglingen sind ebenfalls schwerwiegende Schäden nach Überdosierung Vitamin-D-haltiger Nahrungsergänzungsmittel bekannt. Ursächlich können unter anderem versehentliche Überdosierungen sein, z. B. bei Anwendung von hochkonzentrierten flüssigen Darreichungsformen (11-13).

Während Fertigarzneimittel mit einer Tagesdosis von über 25 µg der Verschreibungspflicht unterliegen (1), sind Nahrungsergänzungsmittel in jeder Dosierung frei verfügbar. Um versehentliche Überdosierungen durch hochdosierte Nahrungsergänzungsmittel zu vermeiden, wären Höchstmengen für Vitamin D in Nahrungsergänzungsmitteln sinnvoll. Nach Ansicht der Gemeinsamen Expertenkommission zur Einstufung von Stoffen geht eine Tagesdosis von 20 µg oder mehr bei Vitamin-D-haltigen Nahrungsergänzungsmitteln über eine Ergänzung der allgemeinen Ernährung hinaus (1). Auch das Bundesinstitut für Risikobewertung empfiehlt für den Vitamin-D-Gehalt in Nahrungsergänzungsmitteln eine Höchstmenge von 20 µg pro Tagesverzehrempfehlung für Jugendliche und Erwachsene (14).

Empfehlung der AkdÄ

Der dargestellte Fallbericht veranschaulicht die Risiken einer Vitamin-D3-Überdosierung bei Säuglingen. Auch vermeintlich harmlose, freiverkäufliche Vitamin-D3-haltige Nahrungsergänzungsmittel können Risiken bergen, insbesondere bei hoher Dosierung/hoher Konzentration. Sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen sollten Vitamin-D3-haltige Arzneimittel nur bei bestehender Indikation und im Einklang mit der Produktinformation angewendet werden. Nahrungsergänzungsmittel dienen lediglich zur Ergänzung der allgemeinen Ernährung. Bei deren Anwendung sollten ebenfalls die Dosierungsempfehlungen bzw. die altersspezifischen sicheren Zufuhrmengen der European Food Safety Agency (EFSA) (5) eingehalten werden. Hohe Dosierungen Vitamin-D3-haltiger Präparate sollten nicht ohne ärztliche Überwachung angewendet werden. Die Anwendung von Vitamin D3 bei Neugeborenen und Säuglingen sollte – unabhängig von der Dosierung – nur unter ärztlicher Überwachung erfolgen und die gleichzeitige Einnahme von Vitamin D aus anderen Quellen (z. B. mit Vitaminen angereicherte Babynahrung) vermieden werden (6). Ebenso sollten aus Sicht der AkdÄ hochkonzentrierte Flüssigzubereitungen von Vitamin D3 wegen der Gefahr akzidenteller Überdosierungen insbesondere bei Kindern vermieden werden.

Bitte teilen Sie der AkdÄ Nebenwirkungen (auch Verdachtsfälle) mit. Sie können online über unsere Website www.akdae.de melden oder unseren Berichtsbogen verwenden, der regelmäßig im Deutschen Ärzteblatt abgedruckt wird.

Literatur

  1. Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Gemeinsame Expertenkommission zur Einstufung von Stoffen: Stellungnahme zu Vitamin-D-haltigen Produkten (01/2016), Revision 1.1 (2017): www.bvl.bund.de/SharedDocs/Downloads/01_Lebensmittel/expertenkommission/Zweite_Stellungnahme_VitaminD_Revision1.1.pdf (letzter Zugriff: 15. Juni 2022). BVL / BfArM, 16. Februar 2017.
  2. Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED). S1-Leitlinie – Vitamin-D-Mangel-Rachitis: www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/174-007.html (letzter Zugriff: 15. Juni 2022). AWMF-Register Nr. 174/007, Version 1.0, März 2016.
  3. Koletzko B, Bauer C-P, Cierpka M, Cremer M, Flothkötter M, Graf C, et al. Ernäh- rung und Bewegung von Säuglingen und stillenden Frauen. Aktualisierte Handlungsempfehlungen von „Gesund ins Leben – Netzwerk Junge Familie“, eine Initiative von IN FORM. Monatsschr Kinderheilkd. 2016;164:771–98.
  4. Jochum F, Krohn K, Kohl M, Loui A, Nomayo A, Koletzko B. Parenterale Ernährung in der Kinder- und Jugendmedizin. S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für klinische Ernährung der Schweiz (GESKES), der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für klinische Ernährung (AKE), die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) und die Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin (GNPI). Aktuel Ernahrungsmed. 2014;39:e99-e174.
  5. European Food Safety Authority (EFSA). Overview on Tolerable Upper Intake Levels as derived by the Scientific Committee on Food (SCF) and the EFSA Panel on Dietetic Products, Nutrition and Allergies (NDA): www.efsa.europa.eu/sites/default/files/assets/UL_Summary_tables.pdf (letzter Zugriff: 6. Juli 2022). Version 4, September 2018.
  6. P&G Health Germany GmbH. Fachinformation „Vigantol® 500 I.E./1000 I.E Vitamin D3 Tabletten“. Stand: April 2021.
  7. Mibe GmbH Arzneimittel. Fachinformation „Dekristol® 400 I.E.“. Stand: Februar 2020.
  8. Mibe GmbH Arzneimittel. Fachinformation „Dekristol® 20 000 I.E.“. Stand: September 2015.
  9. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Hyperkalzämie durch Überdosierung mit Vitamin D. AkdÄ Drug Safety Mail 2017–42 vom 30. November 2017.
  10. Zieschang M. Risiko einer Hyperkalzämie bei unkontrollierter Einnahme von Vitamin D. Arzneiverordnung in der Praxis (AVP). 2021;48:36–8.
  11. Cantrell L, Hogen E. Vitamin D overdosage in an infant from nonprescription vitamin D drops. Am J Health Syst Pharm. 2015;72:1262–3.
  12. Al-Kandari A, Sadeq H, Alfattal R, AlRashid M, Alsaeid M. Vitamin D Intoxication and Nephrocalcinosis in a Young Breastfed Infant. Case Rep Endocrinol. 2021;2021:3286274.
  13. Gerard AO, Fresse A, Gast M, Merino D, Gourdan P, Laurain A, et al. Case Report: Severe Hypercalcemia Following Vitamin D Intoxication in an Infant, the Underestimated Danger of Dietary Supplements. Frontiers in pediatrics. 2022;10:816965.
  14. Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). Höchstmengenvorschläge für Vitamin D in Lebensmitteln inklusive Nahrungsergänzungsmitteln: www.bfr.bund.de/cm/343/hoechstmengenvorschlaege-fuer-vitamin-d-in-lebensmitteln-inklusive-nahrungsergaenzungsmitteln.pdf (letzter Zugriff: 15. Juni 2022). Stand: 15. März 2021.