Neues zur Akuttherapie des Hirninfarkts 2016: Thrombolyse und/oder mechanische Rekanalisation?

Arzneiverordnung in der Praxis

Ausgabe 3/2016

Autor

Zusammenfassung

Fortschritte in der Behandlung des akuten Hirninfarkts werden dargelegt. Die Möglichkeit zur raschen Darstellung des vermutlich noch zu rettenden Gewebes und der dem Infarkt zugrunde liegenden Gefäßpathologie sowie die Weiterentwicklung der interventionellen Neuroradiologie haben neue therapeutische Möglichkeiten geschaffen. Die Kombination von intravenöser Lyse mit intraarterieller (lokaler) Lyse und mechanischer Thrombektomie erweitern das therapeutische Spektrum, auch wenn Detailfragen noch offen sind. Eine gute Kooperation zwischen regionalen und überregionalen Stroke Units ist gefordert.

Abstract

Advances in the therapy of acute ischemic stroke are discussed. The identification of the tissue at risk, the demonstration of the underlying vascular pathology together with improved interventional neuroradiological techniques have broadened the spectrum of therapeutical possibilities even though details still have to be clarified. Intravenous thrombolysis can be combined with intraarterial (local) thrombolysis and mechanical thrombectomy. A good cooperation between regional stroke units and larger centers with interventional neuroradiological experience is needed.

Mit dem Arzneimittel rt-PA – recombinant tissue plasminogen activator – gelang es 1995 in einer ersten randomisierten kontrollierten Studie (National Institute of Neurological Disorder and Stroke [NINDS]) (1) nachzuweisen, dass beim Hirninfarkt die intravenöse systemische Thrombolyse innerhalb von drei Stunden das Outcome im Vergleich zu der Vergleichstherapie deutlich verbesserte, trotz des erhöhten Risikos einer Hirnblutung (NNT ca. 10). Es konnte vor allem auch gezeigt werden, dass mehr Patienten in einem guten Zustand überlebten. Die verbesserte Überlebensrate wurde somit nicht durch einen höheren Anteil von Überlebenden in schlechtem Zustand erkauft. Damals wurden Patienten in unklarem Zeitfenster, mit äußerst schweren Defiziten (National Institutes of Health Stroke Scale [NIHSS] > 25) oder nur ganz leichten Defiziten (NIHSS 1–4) nicht behandelt, ebenso wie Patienten jenseits des achtzigsten Lebensjahres.

Auch wenn bereits Anfang der neunziger Jahre der Aufbau von Stroke Units begann, dauerte es lange, bis der Schlaganfall als dringlicher Notfall eingeordnet wurde und sich geeignete Strukturen flächendeckend gebildet hatten. Die Organisation des Rettungsdienstes sowie die intrahospitalen Abläufe mussten den Erfordernissen angepasst werden, sodass eine schnellstmögliche Basisdiagnostik durchgeführt werden konnte. Zur Basisdiagnostik gehört das so schnell wie möglich durchzuführende cCT zum Ausschluss einer Blutung und eines größeren sich bereits demarkierenden Infarktes (2).

Die umfassende Beurteilung eines akuten Hirninfarkts und der zugrunde liegenden Gefäßpathologie setzt aber eine rasche darüberhinausgehende spezifische Bildgebung (z. B. cCT mit CT-Angio, Stroke-MRT-Programm) voraus, die es ermöglicht, Lokalisation, Ausmaß der Läsion, zerebrale Perfusion sowie weitere Kriterien (z. B. Thrombus/Embolusausdehnung) zur Klärung der Indikation für eine Thrombolyse zu bewerten bzw. das Risiko bei einer neuroradiologischen Intervention (z. B. i.a.-Thrombolyse oder mechanische Rekanalisation) vorab abzuschätzen. Diese Anforderungen können derzeit nur in überregionalen, zertifizierten Stroke Units bzw. in neurovaskulären Verbundstrukturen hinreichend gewährleistet werden.

Eine „door to needle time“ von unter 60 Minuten sollte und wird heutzutage in Krankenhäusern mit einer Stroke Unit in der Regel auch erreicht. Nach dem Konzept „time is brain“ ist die schnellstmögliche Thrombolyse anzustreben. Ein vorgegebenes Zeitfenster bedeutet nicht, dass man die Thrombolyse ohne Nachteile für den Patienten bis ans Ende dieses Zeitfensters herausschieben darf. Mit der ECASS-III–Studie (3) wurde dann gezeigt, dass auch Patienten in einem Zeitfenster von bis zu 4,5 Stunden noch von der Thrombolyse profitieren. Dies führte 2011 zur Erweiterung der Zulassung in Deutschland auf ein Zeitfenster von 4,5 Stunden. Inzwischen ist die Zulassung auch in Großbritannien auf 4,5 Stunden erweitert worden (4).

Eine Altersbegrenzung auf 80 Jahre gilt heute nicht mehr, nachdem gezeigt werden konnte, dass auch ältere Patienten von der Thrombolyse profitieren (5). Der Einschluss älterer Patienten ist leitlinienkonform, auch wenn die Zulassung über achtzigjährige Patienten weiterhin ausschließt (2).

Eine Einzelfallentscheidung ist immer noch das Vorgehen bei sehr leichten, d. h. letztlich wenig behindernden Schlaganfällen (6), da die Verlaufsdynamik auch bei ausführlicher bildgebender Diagnostik nicht prognostiziert werden kann.

Bei Patienten mit unklarem Zeitfenster, insbesondere bei Patienten, die mit einem Schlaganfall aufwachen (sog. Wake-up Stroke), kann ein MRT mit Bestimmung des Areals der Diffusionsstörung (DWI) – als Indikator für das vermutlich nicht mehr zu rettende Gewebe − im Vergleich zu dem Areal der Perfusionsstörung helfen, die Patienten herauszusuchen, die noch von einem Rekanalisationsversuch profitieren könnten („mismatch“ zwischen großem Perfusionsdefizit im Vergleich zu einem noch kleinen Diffusionsdefizit). Auch können die zeitabhängigen Veränderungen des Hirninfarkts in der MRT-Bildgebung (DWI im Vergleich zu FLAIR) Hinweise auf das Alter des Infarkts geben und so auch die Entscheidung zur Lyse und/oder mechanischen Rekanalisation beeinflussen (7;8).

Randomisierte Studien zu Wirksamkeit und Risiko der Therapie bei anamnestisch unklarem Zeitfenster sind derzeit noch nicht abgeschlossen. In vielen überregionalen Stroke Units mit interventioneller neuroradiologischer Expertise werden Patienten mit Wake-up Stroke aber bereits unter Berücksichtigung einer erweiterten MRT-Diagnostik behandelt.

Patienten mit Basilaristhrombosen werden wegen der besonders schlechten Prognose des Spontanverlaufes, insbesondere bei initialem Koma, seit über 30 Jahren (9) – ohne den Nachweis der Wirksamkeit in randomisierten kontrollierten Studien – einer lokalen, d. h. intraarteriellen Thrombolyse unterzogen, gelegentlich auch mit dem zusätzlichen Versuch einer mechanischen Rekanalisation, wobei das Zeitfenster für diese Maßnahmen wesentlich länger ist (9;10).

Die Erfolge der intravenösen Thrombolyse auf das klinische Outcome und die Verbesserung des Kollateralkreislaufs waren dann begrenzt, wenn der Thrombus/Embolus nicht lysiert werden konnte bzw. eine Länge von mehr als 0,7–0,9 cm aufwies. Nach anfänglich individuellen Heilversuchen mit der Kombination von Thrombolyse und mechanischer Thrombektomie in neuroradiologisch spezialisierten Zentren mit z. T. deutlichen Verbesserungen konnten erst mit der Weiterentwicklung des Instrumentariums (insbesondere des Stent-Retrievers) sowie der zunehmenden Erfahrung der interventionell tätigen Neuroradiologen 2015 mehrere positive randomisierte Studien eine erhebliche Verbesserung der Technik und der Behandlungsergebnisse zeigen (Zusammenfassung z. B. in (11;12)). Dies gilt insbesondere für Verschlüsse der distalen Arteria carotis interna und des proximalen Teils der Arteria cerebri media, die sich erfahrungsgemäß mit der i.v.-Thrombolyse nur schlecht rekanalisieren lassen. Der Anteil dieser Patienten liegt bei etwa 5–10 %.

Diese neuen Erkenntnisse müssen dazu führen, dass sich die organisatorischen Voraussetzungen zur optimalen Behandlung von Schlaganfällen, insbesondere der akuten Hirninfarkte (85 % aller Schlaganfälle) auf diese Herausforderung einstellen. Das Vorhalten eines versierten interventionell tätigen Neuroradiologen an jedem Krankenhaus, das sich an der Schlaganfallversorgung beteiligt, ist flächendeckend nicht möglich. Es muss also die Kooperation zwischen vielen regionalen Stroke Units und wenigen überregionalen Stroke Units mit neuroradiologischer Expertise optimiert werden (z. B. Interdisziplinäre Neurovaskuläre Netzwerke der Deutschen Schlaganfall Gesellschaft [DSG]). Details des Vorgehens, wie z. B. das Bridging-Konzept (intravenös beginnen und lokal intraarteriell fortsetzen oder intravenös beginnen und mit mechanischer Thrombektomie fortsetzen) sowie die Details im Hinblick auf Dosierung des intravenös und intraarteriell zu applizierenden Thrombolytikums in Kombination mit verschiedenen mechanischen Rekanalisationsverfahren kann nur in interdisziplinärer Erfahrungsbildung weiter etabliert werden. Wiederholte Nutzen-Risiko-Bewertungen müssen die Entwicklung begleiten.

Unabhängig von allen Rekanalisationsversuchen, die der Reperfusion und der Verbesserung der Kollateralisation dienen, ist die engmaschige Überwachung des akut erkrankten Patienten auf einer Stroke Unit von erheblicher prognostischer Bedeutung, um Entgleisungen von Blutdruck und Blutzucker, Schluckstörungen mit Aspirationsgefahr sowie Herzrhythmusstörungen und epileptische Frühanfälle rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln. Auch ist auf optimale Pflege und früh einsetzende Krankengymnastik zu achten.

Fazit für die Praxis
  1. Frühestmögliche Zuweisung eines Schlaganfalls auf eine Stroke Unit.
  2. Die intravenöse Thrombolyse des ischämischen Hirninfarktes im Zeitfenster von 4,5 Stunden ist bei Beachtung der Kontraindikationen sicher und wirksam.
  3. Auch über achtzigjährige Patienten profitieren.
  4. Die Kombination der i.v.-Thrombolyse mit lokaler intraarterieller Lyse oder mechanischen Rekanalisationsverfahren nimmt an Bedeutung zu.
  5. Die übrige konservative Therapie und das Monitoring inklusive des klinischen Verlaufs auf einer Stroke Unit sind für den Patienten weiterhin von erheblicher Bedeutung.

Interessenkonflikte

Ein Interessenkonflikt wird vom Autor verneint.

Literatur
  1. Tissue plasminogen activator for acute ischemic stroke. The National Institute of Neurological Disorders and Stroke rt-PA Stroke Study Group. N Engl J Med 1995; 333: 1581-1587.
  2. Fiehler J, Grond M, Hacke W et al.: Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls. In: Diener HC, Weimar C (Hrsg.): Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie: Herausgegeben von der Kommission "Leitlinien" der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. 5. Aufl., Stuttgart: Thieme-Verlag, 2012; 307-323.
  3. Hacke W, Kaste M, Bluhmki E et al.: Thrombolysis with alteplase 3 to 4.5 hours after acute ischemic stroke. N Engl J Med 2008; 359: 1317-1329.
  4. Alteplase safe for acute ischaemic stroke. Reactions Weekly 2015; 1563: 1.
  5. Wardlaw JM, Murray V, Berge E, del Zoppo GJ: Thrombolysis for acute ischaemic stroke. Cochrane Database Syst Rev 2014; Issue 7: CD000213.
  6. Shi L, Zhang M, Liu H et al.: Safety and outcome of thrombolysis in mild stroke: a meta-analysis. Med Sci Monit 2014; 20: 2117-2124.
  7. Wouters A, Lemmens R, Dupont P, Thijs V: Wake-up stroke and stroke of unknown onset: a critical review. Front Neurol 2014; 5: 153.
  8. Thomalla G, Gerloff C: Treatment concepts for wake-up stroke and stroke with unknown time of symptom onset. Stroke 2015; 46: 2707-2713.
  9. Zeumer H, Hacke W, Ringelstein EB: Local intraarterial thrombolysis in vertebrobasilar thromboembolic disease. AJNR Am J Neuroradiol 1983; 4: 401-404.
  10. Kumar G, Shahripour RB, Alexandrov AV: Recanalization of acute basilar artery occlusion improves outcomes: a meta-analysis. J Neurointerv Surg 2015; 7: 868-874.
  11. Grech R, Schembri M, Thornton J: Stent-based thrombectomy versus intravenous tissue plasminogen activator in acute ischaemic stroke: A systematic review and meta-analysis. Interv Neuroradiol 2015; 21: 684-690.
  12. Fiehler J, Gerloff C: Mechanical Thrombectomy in Stroke. Dtsch Arztebl Int 2015; 112: 830-836.